Herrgottsbluternte

 

Hoch aufgeschossen Eselsdisteln im verwachsenen Olivenhain.

Die Gräser hüfthoch und durchsetzt mit rotem Mohn, Kamille

und Margeriten. Bis an den Eichensaum hinauf zudem in Büscheln

steht verstreut Johanniskraut. An grünen, graden Stängeln

dunkelgelb fünf Blütenblätter, drum herum die Knospenbüschel.

Ich zupfe selbstvergessen Blüten, leg sie in die Sammeltasche

und die Finger werden langsam rot vom Herrgottsblut.

 

Dies ist das Land, wo die Zitronen blühn, das schöne Land,

vor dessen Stränden tausend Leichen treiben, die vor dem Sterben

übers Wasser flohen, überschüssig, überzählig, nutzlos und verworfen,

Menschen, nicht gebraucht und nicht gewollt, entbehrlich, deklassiert

und ausgemustert, deren Überflüssigkeit sie auf die Boote trieb,

die spurlos kenterten vor Lampedusa, Malta und Sizilien.

Dies ist das frühlingshafte Land, voll Dunkelgrün und Dunkelblau

und leuchtend gelb gesprenkelt von den Ginstersträuchern; das Land,

in dem ich mich erhole von dem Leben in dem andern, aufgeräumteren,

in dem mit Steuergeldern, auch mit meinen, alles Überflüssige,

der Abfall, der das unverstellte Staunen stört auf dieses schöne Land;

auf dieses unanständig reich gewordene, das Land der biedern,

ahnungslosen Menschenfreunde, das sich mit rein gewaschnem Blutgeld

jeden zehnten Meter Autobahn bezahlen lässt und von nichts weiss –

das seinen Abfall sich entsorgen lässt von schlecht bezahlten

Kehrichtleuten, die der Traum sind aller Überlebenden

in Lampedusa, Malta und Sizilien – in diesem unerreichbar fernen

Paradies als Kehrichtleute sich bewähren, leben, sein zu dürfen.

 

Zurückgekehrt aus dem Olivenhain verteile ich die Blütenernte

auf den Tisch der Ferienwohnung: dieses intensive Leuchten!

Eine Handvoll Blüten gebe ich in eine grosse Tasse, brühe

sie mit heissem Wasser auf und lass den Tee dann zehn Minuten

ziehen. Ich trinke ihn mit einem Löffel Honig, den’s hier billig gibt.

Bevor ich mich mit einem Buch vors Haus und in den Schatten setze,

gehe ich ins Badezimmer, wasche mir mit Seife meine Hände.

Als dunkelrotes Rinnsal fliesst Hypericin ins Lavabo – bei starker

Sonne ist es phototoxisch heikel für die Haut, ansonsten sagt

die Kräuterkunde: Herrgottsblut im Tee dämpft überreizte Nerven.

 

(22.5.; 12./19.7.2015)

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