Gratisführung

 

Durchs Dach des Sprachgewölbes regnet es, und

niemand weiss genau, waren’s Vandalenakte oder hat

der Wind des Wirklichen die Wörterziegel weggeweht.

Beachten Sie im nackten Traggestänge da und dort

vertrocknete Metaphern, die seinerzeit bei edleren

Produkten stets ein stark gefragter Zierrat waren.

 

Dies, meine Damen, meine Herren, sind die Hallen,

in denen einst die Wörterposamenter jenes

Kunsthandwerk betrieben, das die Sprachgebilde

in die Form von schnörkelreichen Unikaten brachte.

Hier, gleich nebenan: Das sind die Abraumhalden,

die damals mit dem Ausschuss aufgeschüttet wurden.

Wen’s intressiert, erkennt in faszinierendem Zerfall

den aufgetürmten Sprachschrott, lautzermahlte

Scheinruinen. Was sirrt, ist präverbales Rauschen.

 

Doch leben wir in einer andern Zeit, gewohnt

an hochpräzis gebaute Industrieprodukte,

massgenaue Elemente einer makellosen Logik,

standardisiert bis in die letzte Sinn-Nuance.

Obschon die Produktion heut ausgelagert ist

ins Billiglohn-Entwicklungsland des freien Worts,

ist zweifelsfrei belegt: Der Fortschritt ist enorm

dank der Bescheidenheit der Massenproduktion,

die in den Köpfen nun zu ihrem eignen Besten

den antiquierten Posamenterstolz ersetzt durch Stolz

an arbeitsteilig meinungsfreier Industriearbeit.

 

Was hier, Sie wissen es, noch produziert wird,

sind in High-Tech-Nischen spezielle Ideologeme,

für die wir ja in aller Welt bekannt sind, nennen wir’s

Diskursfinessen für begnadete Artisten des Betrugs.

Ansonsten allerdings, das könnte man bedauern, werden

hier, auf diesen Brachen, keine Wörter mehr geschliffen

und keine filigranen Wörterketten mehr montiert.

 

Dafür, schaun Sie zum Horizont, die Bürotürme

unsrer Tertiärkonzerne, die uns erst wirklich lehrten,

dass die Rede ohne ihre Hilfe keine Wirkung hat.

Was hülfe doch dem Laien noch das stärkste Wort,

wenn er dann doch nur völlig ratlos wäre,

wie er mit diesem Mittel seinen Zweck erreicht?

Weil auch in diesem Produktionsbereich der Markt

stets nur das Beste fordert und das Wollen anspornt,

erschufen Pioniere diese Industrie, die – unserm Land

zur Zierde – Sprache jedem Kundenwunsch gerecht

konfektioniert, verpackt, verkauft und uns zu dem macht,

was wir heute sind: wörtergewandt und wortgewaltig.

 

Was nun das Areal der Posamenterhallen hier betrifft,

sind sie den selbstbezognen Schiefgewachsenen vermietet,

die sich so wirkungslos für Künstler halten dürfen,

indem sie genialisch obsolet Gewordnes imitieren.

Mit PR-Geldern unsrer Tertiärkonzerne werden dann

die so genannten Werke angekauft, gesammelt,

ausgestellt und endgelagert, damit die Schiefgewachsnen

dort nicht stören, wo wir neue Universen schaffen.

 

(24. + 30.6., 1. + 8. 7. 2012, 20.7.2014)

v11.5