Duddova

Ein dunstiger Apriltag, warm und feucht. Ich gehe
von Cennina abwärts Richtung Duddova. Im Weg
durch die Olivenhaine viele grosse Steine. Hier
geht selten jemand, manchmal fliesst wohl talwärts
Regenwasser, reisst das Erdreich mit und lässt
die Steine liegen. Weiter drüben brechen hellgrün
Blätter aus den alten Rebenstöcken. Durch
den ganzen Hang hier silbert grün Olivenlaub,
und Gräser neigen dunkelgrün sich in den Weg.

Im Dorf hat mir mein Freund auf einem Kärtchen
seine Handy-Nummer überreicht und bloss gesagt:
«Für alle Fälle.» Ging mit Schere und mit Säge dann
im Hain an seine Arbeit. Nun schwenkt der Weg
rechts in den Wald und junges Eichenlaub füllt
hellgrün diese Senke mit dem flachen Bächlein,
das ich auf zwei Steinen trocknen Fusses überquere.
Plötzlich fällt mir ein: Mein Handy habe ich
im Zimmer liegen lassen. Ich erschrecke: abgenabelt.
Schnell hat man sich dran gewöhnt, allein zu sein,
und auf der Welt doch nicht verlorn zu gehen.

Im nächsten Einschnitt eine kleine Brücke, alt,
doch liebevoll gezimmert. Dann bergauf ein Rebberg
und schon schwenkt der Weg rechts in die Gasse:
Duddova. Mein Schritt ist gut: Statt der fünfviertel
Stunden, wie geplant, warn das bloss gut dreiviertel.
Rechts und links der Gasse hohe Häuserzeilen,
hier und da les ich ein «Vendesi». Nun ja, denk ich,
ein abgelegner Weiler in dem Hügelland. Ich will
nach San Martino, heute komme ich noch weit.

Nach einigen Minuten liegt vor mir im Fahrweg
eine junge, tote Maus, die ich zwar sehe, aber
nicht beachte, weil ich stets den Weg im Auge habe,
der in sanften Schwüngen durch die Haine führt.
Dreihundert Meter weiter eine Gabelung, doch
keine rotweiss leuchtende Markierung mehr.
Nun ja, denk ich, und nehm den Weg, der
von der Richtung her plausibel scheint. Kaum
fünf Minuten später stehe ich vor einem Landgut,
und der Weg führt hinterm Haus vor einen Zaun.
Ich kehre um und nehme an der Gabelung den
andern Weg. Nach weitern fünf Minuten stehe ich
in einem unabsehbar weiten silbriggrünen Hang,
die Fahrspur ist verwachsen und verliert sich.

Ich kehre um und sehe kurz vor Duddova, verdeckt
von einem Eichenzweiglein, rotweiss die Markierung
talwärts weisen, schwenke ein und bin verärgert
über dieses Zweiglein, das mir Schwung und Zeit
genommen hat. Nun zügig abwärts in ein wilderes
Gebiet, durchwachsen mit Gehölz und niedrigem
Gestrüpp. Vor einem alten Bauernhaus weist mich
ein Zeichen rechts weg in ein Feuchtgebiet: Zuerst
ein Bach, danach ein kleiner, dunkelgrüner See,
dann Krüppelholz und sumpfiges Gelände. Zwar
fehlen wieder Zeichen, doch der Weg ist breit.

Später schwenken hüfthoch namenlose Gräser
weitgeschwungne Rispen über faulen Moder.
Bis zum Horizont kein San Martino, aber plötzlich
eine Orientierungstafel, grün beschriftet, randwärts
stark vermoost. Wie ich stehen bleibe, sinken
meine Schuh bis an die Knöchel in Morast,
und ich versuche zu entziffern, was da steht:
Unlesbare Zeichen stehn für namenlose Orte.
Ich erschrecke, blicke rückwärts, seh den Weg,
auf dem ich kam, nach kaum zehn Schritten
untergehn im Bodenlosen. Verblüfft greif ich
nach meinem Handy, das mich wecken wird.  

(29.4.-3.5.2013; 31.3.2018)

Nach dem Freischalten des Textes als Monatsgedicht auf Anfang April 2018 kommentierte der Schriftsteller Alex Gfeller mit einem launigen Facebook-Post: «Duda? Nein, Dieda. Dieddova? Ja, Dieda. Dada, quoi?» Worauf Marco Haeberling, «mein Freund» im Gedicht, in einem weiteren Post anmerkte: «Oder in pidgin italienisch: Du do va. (Tu dove va.) Du wohin gehen.» Mir war diese Interpretation des Wortes nicht bewusst. Der Titel passt besser, als mir bewusst war. (Übrigens ist Duddova ein Ortsteil der weitläufigen Gemeinde Bucine nordwestlich von Arezzo.) (11.4.2018)

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