Braunes Wasser

 

Die Kander fliesst seit Wochen hoch vom Heimritz

her durchs Gasterntal, spritzt weiss entlang

der meterhohen Blöcke durch die steile Chlus,

schäumt wirbelnd durch die Ebene von Kandersteg

flink in begradigtem Granitkanal talauswärts,

wälzt sich nach Frutigen entlang der Niesenkette

in schweren Rollen über breite Schwellen in den See;

graubraun und tosend, als lägen all die Hänge

frühlingshaft, noch triefend vom geschmolznen Schnee,

als brächen Soldanellen eben erst aus braunem Grund,

als stünden hoch im ersten milden Glast die Felsen

strahlend weiss noch überm zögerlich ergrünten Tal –

Doch jetzt ist bald schon der August vorbei, die Flanken

stehen aper bis hinauf ans Eis, und schwarzgrau

schneiden sich die Grate in den amtlich registrierten

Wärmeüberschuss: Hier schmelzen Gletscher.

 

Dies ist das Bild, das mir als Kind die Heimat war:

am Horizont die lange Kette mit dem weissen Glanz.

Sie wurde mir zum Sinnbild unverbrüchlich treuer Kälte

und machte mir das Land auch späterhin und gegen

jede Angst berechenbar. Die grösste Attraktion

ist hier die kältetote Schönheit, ist der Schnee,

den man von Alters her den ewigen nannte,

so ewig wie der fortschrittsfrohe Gott der Saturiertheit,

den ich schon früh landauf landab auf jedem Dachfirst

wusste und in jedem Kopf; so ewig wie die Liberalität,

die noch mich selbsternannten Nestbeschmutzer

lebenslänglich hinnahm ohne ernst zu nehmen;

so ewig wie die Selbstgerechtigkeit, es sei der Wille

Gottes, dass es mir hier gut ging und dass andre

anderswo deswegen starben; dass jeder hier in Freiheit

und Verantwortung, solange er’s bezahlen kann,

den Alpenkranz geniessen soll; und wenn die Wüsten

wüchsen und die Pole schmölzen, dies die Strafe sei

für fremder Leute böse Taten oder Ungeschick,

die bitte schön zum Teufel gehen sollen, wenn sie

ohne zu bezahlen unsre Alpen sehen und ein Leben

führen wollen unter eingebornem Dachfirst.

 

Ich sitze an der Kander, und das Wasser neckt mit

kühlen Spritzern auf die warmen, grob behaunen Blöcke.

In einer Zeitung sagt ein Glaziologe, dass kein Wunder

in den nächsten hundert Jahren Gletscher wachsen lasse;

als Wasserspeicher für die Stromerzeugung fehlten sie

und ebenso als Sicherung für instabilen Fels. Was soll’s?

Die Gletscherschmelze aufzuhalten sei nicht möglich

und ich als Kriegsverschonter weiss: Wenn Meere steigen,

schert das dieses Land zuletzt. – Kein Wunder schafft

den weissen Kranz am Horizont aufs Neue, der mir

das Land berechenbar erscheinen liess. Wie mir

der ewige Schnee Gewissheit war, wird Nachgebornen

nun braunes Wasser zur Gewissheit werden,

braunes Wasser und ein schwarzer Kranz am Horizont.

Das gute Leben gibt’s nur gegen alle andern.

 

(1.-23.8.2015; 28.8.2016)

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