2004

 

[136: leer; 137: Titel; 138]

Echsenzeit

 

Arbeitspause

Sperrig und fremd

suchen die Verse im Kopf

das Eigne erneut.

Blicke ich auf,

seh ich im Fenster

den Steilhang jenseits des Tals:

Baumwand unter Spätsommerblau.

Wie vor hundert Jahren,

wie in hundert Jahren.

Hier ändert nichts

als hinter dem Fenster

die Augen.

 

Bei Costa

Träumend geh ich

auf dem Plattenweg

drei Schritte hinter dir.

Plötzlich

hellbraun schwarz gefleckt

liegt vor mir eine Schlange,

entknäuelt sich träge, gleitet

den Steilhang hinab,

verschwindet

unter Wurzeln.

Wie aber kam

wasserschlauchdick

dieses Tier zwischen uns?

 

[139]

Mittagsnachrichten

Auf dem Holztisch verstaubt

in der niedrigen Küche

steht ein Transistorradio.

Das Drehrad rechts

schafft klickend Kontakt

zum Ölfilm über der Welt.

Es wackelt: Vorsicht,

sonst fällt es ab.

 

Waldweg

Im alten Säumerweg bei Vosa

liegt zwischen lauter groben Quadern

eine Platte von geschwungner Form.

Drauf eingehauen ist in grossen Lettern

die Jahrzahl 1912. Und

unterhalb des Wegs fällt steil

der Wald in Stufen ab: Terrassen

längst verwachsnen Ackerlands.

Leerer werden die Zeichen,

bald verstummen sie ganz:

Das nächste ist noch Geschichte,

das übrige wieder Natur.

 

[140]

Sommerflieder

Verklammert in die Trockenmauer

breitet der Strauch

die wippenden Zweige ins Licht:

ein hergewehter Neophyt.

Auf seiner ersten

violetten Blütendolde

balanciert ein Schmetterling.

 

Monte Calascio

Der Übergang jenseits des Tals,

«Weiden, Trockenmauern im Geviert

und Wald mit Lichtungen»,

von Gletschern flachgeschliffen:

Das ist der Passo della Garina.

Darüber flüchtete Herr Geiser,

darüber floh er zurück ins Tal.

Und unten links das Dorf,

das klebt am Hang: Berzona.

Dort wirbelte durchs Holozän,

dem keiner je entkommt,

die Asche jenes Manns,

der Geisers Flucht ersann.

 

[141]

Nach dem Gewitter

Im Tal tost seewärts

das Gewitterwasser.

Auf dem Steintisch liegt

ein weggerissnes Rosenblatt.

Drauf steht im Sonnenlicht

ein Tropfen Wasser,

geformt zu einer Perle,

die vibriert im Wind.

Ihr Glanz vergeht der Wärme zu:

ungebraucht und nicht getauscht.

Das Rosenblatt fliegt

mit dem Wind.

 

Rückkehr

Jetzt liegen erste Kastanien

im Laub und unwirklich nun:

die Gneisplattenruhe des Wegs.

Unwirklich schon:

die überstürzte Abreise letzthin,

die Tage am Krankenbett,

das Warten auf ein nächstes Wort,

immer vergeblicher.

Jetzt sind alle Koffern gepackt,

auf dem Tisch liegt das Handy:

Solange es schweigt,

atmet jenseits der Alpen

die Mutter.

 

[142]

Die Eidechse

Immer der Sonne zugewandt

blickt auf dem Steintisch

die Eidechse reglos ins Licht.

Selten ruckt ihr Kopf nach links

oder rechts. Ihr Maul klammert

den Rumpf des Engerlings,

der sich vor dem Echsenkopf windet.

Ab und zu mahlen die Kiefer.

Der Stummel zuckt schwächer,

und langsam wird er kürzer.

(Zyklus: 2004)

v11.5