2002

 

[118: leer; 119: Titel; 120]

sommersession

 

                              der vorjodler jodelt vor:

                                 joduliöö die fahnen

                             wehen schon vormittags

                              jetzt wird nicht gekitzelt

                              sagen die rätinnen denn

                              schon pimmelt die glocke

                               zur gewaltfragestunde

 

 unserefreiheitundunabhängigkeitmüssenwirunsderproblemeste

llenvorundnachteilederausmarchungstehtnochdahinwirverurteil

  enjedochaufsschärfstewehretdenanfängenspielregelnderdemo

  kratieihrersacheeinenbärendienstimrechtsstaatnichtduldendur

  chsetzungderrechtssicherheitansonsten:unserefreiheitapplaus

 

                                in der bundesgasse

                             sagt der parlamentarier

                                 nach seiner arbeit

                                  konsumbewusst:

                                reiben aber langsam

                             auf die frage des kindes:

                           ob es ihn berühren müsse

(1989/2004)

 

[121]

landesausstellung

 

freundlich strömen die menschen über den kiesplatz am ufer,

vor dem würfel im see ziehen sie langsam vorbei.

einzelne nur verharren für augenblicke, betrachten

flüchtig das unterseeboot, das hier, zerfressen von rost,

liegt unter murtens mauern, zwecklos auf sockeln aus beton:

stählernes zukunftsfanal einer vergangenen zeit.

damals war expo in lausanne und fortschritt alles, was glänzte.

biederpoliert war das land, wirtschaft und staat schienen eins.

treuherzig strömten auch damals die leute, gehorsam zu staunen –

misstrauen gegen den glanz brach von den rändern herein.

schriftsteller sollten dort reden über den beitrag des schweizer

dichters zum aufbau des lands. diggelmann störte das fest:

«jetzt wünscht man unsere meinung? da wir seit jahren und jahren

ungehört blieben und nichts unserem reden gelang?

einen einzigen auftrag haben wir hier: zu zertrümmern

all das versteinte im land.» diggelmanns wut siegte spät:

schartig zerfressen liegt hier das zukunftsboot als kadaver

vor der goldkugel, die ungeschürft sinkt hinterm see.

 

unter dem hölzernen rundbau neben neuenburgs hafen

rücken die wartenden vor, plaudernd zum tor des palasts.

palais de l’équilibre: hier errettet die wirtschaft

trotz dem ärgernis staat nachhaltig planend die welt.

sachlich verschluckt der eingang den zug der arglosen. fordert

jegliche hoffnung nicht stets gläubige opfer zuerst?

hilty, eines von ihnen, suchte den gral der moderne

gläubig auf parsifals spur. mutig war sein entwurf:

 

[122]

werk und wille und weltbild; protokoll einer häutung;

halb traktat, halb roman: liebe und être soi-même;

strahlende thunfischkonserve; weltekel, wohlfahrt in freiheit;

friedlich genutzte atomtechnik als grosses trotzdem.

später: die tage von gösgen. die kette der uniformierten,

singende leute im gas. dampf überm kühlturm seither.

tschernobyls feuer: plötzlich strahlen auch heimische pilze.

heute ist der markt auch für plutonium frei.

muss man nicht positiv denken? fragt das orakel im holzbau.

doch, prophezeit es, man muss. schwer ist der weg der kritik,

 

ungeliebt geht man ins leere, nur verpflichtet der macht des

richtigern arguments. hilty beging diesen weg,

förderte dichter und wurde verleger der neuen und linker,

einer, der schreibend stritt gegen die welt, wie sie war.

er verlor sein vermögen, sein ansehn und seine gesundheit,

später entglitt ihm das wort hinter spastischen krampf.

man vergass ihn und schmerzlos wie der schatten des kauzes

traf uns danach sein tod, der hinter andern versank:

treibt in der seine nicht meerwärts meienbergs trauernde asche?

und bei berzona weht frischs asche als staub durchs gehölz

hinten im val onsernone. hier vor yverdons ufer

fliegt der wasserstaub hoch zum verordneten spiel.

vor dem laufsteg am ufer in überwürfen aus plastik

staut sich die prozession für den gang auf den see

in die künstliche wolke aus leise zischenden düsen.

schweizer präzision: sauber im seegrund verstrebt

steht ein metallnes gerüst, ein wolkenherz, kalt und begehbar.

düsendampf wird zu natur: wie wird beton zu gras?

 

damals fanden zwei kinder im unterholz einen panzer.

träumend vom veto des volks starteten sie den motor.

 

[123]

einfahren wollten die beiden gegen das quälende alte:

gegen granaten und angst, stoppuhren, beton, gewalt

steuern die kinder den panzer stadtwärts ins zentrum von olten,

suchen die fratze der macht hinter konzernen und geld,

rammen den eingang des tagblatts, ohne den feind zu erreichen:

hinter splitterndem glas, unter dem berstenden stein

nichts als ein grosses geräusch: tosend wie fallendes wasser,

heulend wie nordwind im wald, zischt, wird leiser und leicht.

hinter dem stein zersetzt das rauschen sätze, begriffe,

wörter zu fliessendem ton, wäscht mit vergessen den laut,

tröstet als lied ohne worte, vergilt das unrecht mit schönheit,

trennt das dichten vom tun. niemand mehr stört jetzt das fest:

hier in biel weht ab und zu ferner applaus übers wasser,

schlendernde wandeln klein über die brücke im see.

schiffe gleiten zur nahen anlegestelle hinüber.

auf den jurahöhn flammt ein vergoldendes licht.

 

viele flanieren. freundlich inszeniert sich das land hier.

andere stehen still, lauschen verzaubert empor

in den mächtigen klangturm, der stimmen, winde und wellen

klangwirbel formend verschmilzt: so wird das rauschen zur kunst.

wind weckt wogendes flöten, ein schüchterner schrei das orchester:

hinter dem denken lockt sanft alles versöhnend der klang,

überwältigt den willen und generiert maschinell ein

selbstverlornes ich-will über die wörter hinaus.

ihr aber, heutige dichter, dispensiert euch vom reden,

euch intressiert statt des lands nur noch die wirkung des werks.

diggelmann, hilty und walter sind euch verworrne propheten,

sprachlich? ihr hüstelt blasiert: viel zu viel linke moral.

 

[124]

professionell ist das schweigen, der markt macht meinungen selbst, und

kameras lieben das bild vielsagend stummer genies.

nacht wirds. kunstlicht verklärt sie zur heimat als schützende glocke.

über der schwärze des sees leuchtet ein erster stern.

plötzlich von neuenburg her ein donnern als grollten gewitter:

gross dröhnt ein lachen herauf aus der versunkenen welt.

(2002/2003)

 

[125]

zauberformel

 

vater mein vater

komm schau doch und sag mir

wem dient denn das viech hier

in diesem verkrachten

provinztheater?

            kind mein kind

            dieser würger mit hauern

            ist ein bestialitäter

            und faucht er und kräht er

            dann wird es hier kälter

            und derart gefällt er

            den bürgern und bauern

 

sag mir und diese

vergoldeten mauern:

haben die schlauern

dahinter nicht längstens

privatparadiese?

            kind so ists

            die sind ja nicht dumm

            die verdienen zumeist

            am geld und am geist

            fast ohne zu rauben

            im festen glauben

            der mensch sei ein tier mit eigentum

 

hör ein moderner

ein schneidender missklang!

wer macht diesen singsang?

 

[126]

wer spielt diese falschen

doppelklanghörner?

            kind das ist

            die christengemeinde

            sie spielt im sopran

            immer laut himmelan

            doch im bass dröhnt irdisch

            der christliche biertisch

            für die interessen der glaubensfreunde

 

vater ach vater

und was stinkt so süsslich

wer mieft so verdriesslich

in diesem erloschnen

sozialdemokrater?

            kind ach kind

            es ist eine sie

            ich vergass gott sei dank

            nach und nach den gestank

            meiner ersterkornen

            meiner früh verlornen

            im krater verfaulten utopie

(1993/2003)

v11.5