[118: leer; 119: Titel; 120]
sommersession
der vorjodler jodelt vor:
joduliöö die fahnen
wehen schon vormittags
jetzt wird nicht gekitzelt
sagen die rätinnen denn
schon pimmelt die glocke
zur gewaltfragestunde
unserefreiheitundunabhängigkeitmüssenwirunsderproblemeste
llenvorundnachteilederausmarchungstehtnochdahinwirverurteil
enjedochaufsschärfstewehretdenanfängenspielregelnderdemo
kratieihrersacheeinenbärendienstimrechtsstaatnichtduldendur
chsetzungderrechtssicherheitansonsten:unserefreiheitapplaus
in der bundesgasse
sagt der parlamentarier
nach seiner arbeit
konsumbewusst:
reiben aber langsam
auf die frage des kindes:
ob es ihn berühren müsse
(1989/2004)
[121]
landesausstellung
freundlich strömen die menschen über den kiesplatz am ufer,
vor dem würfel im see ziehen sie langsam vorbei.
einzelne nur verharren für augenblicke, betrachten
flüchtig das unterseeboot, das hier, zerfressen von rost,
liegt unter murtens mauern, zwecklos auf sockeln aus beton:
stählernes zukunftsfanal einer vergangenen zeit.
damals war expo in lausanne und fortschritt alles, was glänzte.
biederpoliert war das land, wirtschaft und staat schienen eins.
treuherzig strömten auch damals die leute, gehorsam zu staunen –
misstrauen gegen den glanz brach von den rändern herein.
schriftsteller sollten dort reden über den beitrag des schweizer
dichters zum aufbau des lands. diggelmann störte das fest:
«jetzt wünscht man unsere meinung? da wir seit jahren und jahren
ungehört blieben und nichts unserem reden gelang?
einen einzigen auftrag haben wir hier: zu zertrümmern
all das versteinte im land.» diggelmanns wut siegte spät:
schartig zerfressen liegt hier das zukunftsboot als kadaver
vor der goldkugel, die ungeschürft sinkt hinterm see.
unter dem hölzernen rundbau neben neuenburgs hafen
rücken die wartenden vor, plaudernd zum tor des palasts.
palais de l’équilibre: hier errettet die wirtschaft
trotz dem ärgernis staat nachhaltig planend die welt.
sachlich verschluckt der eingang den zug der arglosen. fordert
jegliche hoffnung nicht stets gläubige opfer zuerst?
hilty, eines von ihnen, suchte den gral der moderne
gläubig auf parsifals spur. mutig war sein entwurf:
[122]
werk und wille und weltbild; protokoll einer häutung;
halb traktat, halb roman: liebe und être soi-même;
strahlende thunfischkonserve; weltekel, wohlfahrt in freiheit;
friedlich genutzte atomtechnik als grosses trotzdem.
später: die tage von gösgen. die kette der uniformierten,
singende leute im gas. dampf überm kühlturm seither.
tschernobyls feuer: plötzlich strahlen auch heimische pilze.
heute ist der markt auch für plutonium frei.
muss man nicht positiv denken? fragt das orakel im holzbau.
doch, prophezeit es, man muss. schwer ist der weg der kritik,
ungeliebt geht man ins leere, nur verpflichtet der macht des
richtigern arguments. hilty beging diesen weg,
förderte dichter und wurde verleger der neuen und linker,
einer, der schreibend stritt gegen die welt, wie sie war.
er verlor sein vermögen, sein ansehn und seine gesundheit,
später entglitt ihm das wort hinter spastischen krampf.
man vergass ihn und schmerzlos wie der schatten des kauzes
traf uns danach sein tod, der hinter andern versank:
treibt in der seine nicht meerwärts meienbergs trauernde asche?
und bei berzona weht frischs asche als staub durchs gehölz
hinten im val onsernone. hier vor yverdons ufer
fliegt der wasserstaub hoch zum verordneten spiel.
vor dem laufsteg am ufer in überwürfen aus plastik
staut sich die prozession für den gang auf den see
in die künstliche wolke aus leise zischenden düsen.
schweizer präzision: sauber im seegrund verstrebt
steht ein metallnes gerüst, ein wolkenherz, kalt und begehbar.
düsendampf wird zu natur: wie wird beton zu gras?
damals fanden zwei kinder im unterholz einen panzer.
träumend vom veto des volks starteten sie den motor.
[123]
einfahren wollten die beiden gegen das quälende alte:
gegen granaten und angst, stoppuhren, beton, gewalt
steuern die kinder den panzer stadtwärts ins zentrum von olten,
suchen die fratze der macht hinter konzernen und geld,
rammen den eingang des tagblatts, ohne den feind zu erreichen:
hinter splitterndem glas, unter dem berstenden stein
nichts als ein grosses geräusch: tosend wie fallendes wasser,
heulend wie nordwind im wald, zischt, wird leiser und leicht.
hinter dem stein zersetzt das rauschen sätze, begriffe,
wörter zu fliessendem ton, wäscht mit vergessen den laut,
tröstet als lied ohne worte, vergilt das unrecht mit schönheit,
trennt das dichten vom tun. niemand mehr stört jetzt das fest:
hier in biel weht ab und zu ferner applaus übers wasser,
schlendernde wandeln klein über die brücke im see.
schiffe gleiten zur nahen anlegestelle hinüber.
auf den jurahöhn flammt ein vergoldendes licht.
viele flanieren. freundlich inszeniert sich das land hier.
andere stehen still, lauschen verzaubert empor
in den mächtigen klangturm, der stimmen, winde und wellen
klangwirbel formend verschmilzt: so wird das rauschen zur kunst.
wind weckt wogendes flöten, ein schüchterner schrei das orchester:
hinter dem denken lockt sanft alles versöhnend der klang,
überwältigt den willen und generiert maschinell ein
selbstverlornes ich-will über die wörter hinaus.
ihr aber, heutige dichter, dispensiert euch vom reden,
euch intressiert statt des lands nur noch die wirkung des werks.
diggelmann, hilty und walter sind euch verworrne propheten,
sprachlich? ihr hüstelt blasiert: viel zu viel linke moral.
[124]
professionell ist das schweigen, der markt macht meinungen selbst, und
kameras lieben das bild vielsagend stummer genies.
nacht wirds. kunstlicht verklärt sie zur heimat als schützende glocke.
über der schwärze des sees leuchtet ein erster stern.
plötzlich von neuenburg her ein donnern als grollten gewitter:
gross dröhnt ein lachen herauf aus der versunkenen welt.
(2002/2003)
[125]
zauberformel
vater mein vater
komm schau doch und sag mir
wem dient denn das viech hier
in diesem verkrachten
provinztheater?
kind mein kind
dieser würger mit hauern
ist ein bestialitäter
und faucht er und kräht er
dann wird es hier kälter
und derart gefällt er
den bürgern und bauern
sag mir und diese
vergoldeten mauern:
haben die schlauern
dahinter nicht längstens
privatparadiese?
kind so ists
die sind ja nicht dumm
die verdienen zumeist
am geld und am geist
fast ohne zu rauben
im festen glauben
der mensch sei ein tier mit eigentum
hör ein moderner
ein schneidender missklang!
wer macht diesen singsang?
[126]
wer spielt diese falschen
doppelklanghörner?
kind das ist
die christengemeinde
sie spielt im sopran
immer laut himmelan
doch im bass dröhnt irdisch
der christliche biertisch
für die interessen der glaubensfreunde
vater ach vater
und was stinkt so süsslich
wer mieft so verdriesslich
in diesem erloschnen
sozialdemokrater?
kind ach kind
es ist eine sie
ich vergass gott sei dank
nach und nach den gestank
meiner ersterkornen
meiner früh verlornen
im krater verfaulten utopie
(1993/2003)