[108: leer; 109: Titel; 110]
abendverkauf
die altstadt animiert mit den fassaden
kokett verleibt der alte herrschaftsstein
sich stossverkehr und kaufkraftfliessen ein
und trägt die nacht über den grellen gassen
in nischen husten rhythmisch die nomaden
zur klampfe für das sterbegeld
ihr lied vom liebesleid dem strom entlang:
so schlägt die angst vorm untergang
den takt anthropomorphen durchlaufmassen
die kids stehn in den warenhauseingängen
sie riechen frisch und fühlen sich begehrt
sind gut erzogen und noch kaum verladen
und werden für das leben aufgeklärt:
verspritzen hier nicht hinter stahlgestängen
erregende genussejakulate?
der warenstrom schleift junge seelen rund
und macht bedürftigkeit zum vaginalen schlund
für tausend eingeführte tauschwertdrogen:
was hungrig macht verkauft sich als oblate
zwar geht entlang der ränder stumm
in schwundform leben um: doch bald vorbei
hier schmiert die kauflust störungsfrei
das räderwerk: der mond wird aufgezogen
(1993)
[111]
der feminist
endlich ist der blaustrumpf-mief
überwunden und gemeistert:
alle denken positiv
und von der neuen zeit begeistert.
tot ist der geschlechterkrieg.
wir vertragen uns jetzt wieder
und wir feiern unsern sieg:
alle menschen wurden brüder.
jetzt geht alles wie im spiel
weil wir alle darauf brennen
uns zu leben für ein ziel
und zu leisten was wir können.
leistung ist geschlechtsneutral
objektiv wie zeugnisnoten
deshalb trifft der chef die wahl
nicht der zwang zu frauenquoten.
chancengleich sind wir genau
alle haben wir ja seelen
und gemüt. so kann die frau
ihren aufstieg nicht verfehlen
bringt sie konstruktiv sich ein.
alle solln ihr bestes zeigen
können: differenz darf sein
wenn die marktanteile steigen.
[112]
allen wird respekt gezollt,
auch den ausrangierten damen.
nur der rest ist gottgewollt.
lob und preis dir herrgott amen.
(2003)
[113]
der wahlsieg
politik schmückt diese tage
demokratisch wird das glück verteilt
stummregierte zum programm verfeilt
zum kolorit der allgemeinen lage
und zum plakatdiktat gestylt
im blaulicht eines pissoirs drücken
ertrinken an den klippen einer bar
am küchentisch versteinern vor der mahr:
zuerst muss dieses wochenende glücken
bevor es nicht das letzte war
auf sendung wissen koryphäen
was für ihr publikum das beste sei
die wahlgewinner machen ihr geschrei
und ausgezählte resultate wehen
mit dem frisch gefallnen laub vorbei
(1991/2004)
[114]
folienflash
tag nach tag das schlachtenschlagen
nachtlang tagkrank amen sagen
mamas jachten
papas schlachten
allen tand mit anstand tragen
zugekifft
auch an flaggenkalten tagen
aus der angst ein strahlen schlagen
aus mas lachen
lachen drachen
die aus faltenspalten ragen:
marterschrift
tag nach tag den abgang wagen
narbenwahres wahnbehagen
statt pas schatten
zu bestatten
drachenjagen drachenjagen
welt ist gift
(1993)
[115]
alte weltordnung
Für Emily Kempin-Spyri (1853-1901), der ersten Juristin der Schweiz
Wie sonst der unordnung wehren?
leiber vom arm und vom hals
köpfe von frauen mit schals
männer von ihren gewehren
klinik friedmatt neunzehnhundert:
verwahrt führt die fleissige frau
die schere durchs zeitungspapier
zerrissen das band der geschlechter
füllt schachteln mit bruch und fragment:
köpfe von bäuchen getrennt
nur töten vereinigt gerechter
die welt ist ein männerrevier
und nacht vor vergittertem bau
die lächelnde leidet verwundert
(1991)
[116]
tagtürme nachttürme
als feuerball vermählt an diesem tag
erhabenes das wachstum mit dem terror
verschont auch jetzt die stunden ragen kahl
ins stahlblau unveränderliche auf
zerborsten ist der weltmarkt-doppeldom
und nichts sei mehr wie vorher drohen
die zeitungstitel schon im krieg die alten
gehen in die stadt nach mehl und öl
instinkt der frühen jahre fromme beten
die schafe heulen mutig mit dem wolf
der gut und böse trennt die opfer sind
zu staub zermalmtes schmieröl des getriebes
der bundesrat verordnet drei minuten
schweigen der wolf wird nur die feinde fressen
die nächsten titel meinen schon den sieg
und nachts eine hektische hausstadtglocke
durchströmt von flüchtigen schatten zwischen
strassenversperrenden bildschirmtürmen
überall dieses plakat aus zweimal
sieben fotos: tote rümpfe in weissen
dschellabas mit schwarzen einschusslöchern
eines hier mehrere dort: wer rächt
die rache des mächtigsten? hinter
den türmen ein dämmriger schulraum
die bänke verwaist abgewendet sitzt
an der fensterfront der lehrer und blickt
abgestorben hinaus in den regen der nacht
[117]
plötzlich erkenne auch ich hinterm glas
den regenbraun schäumenden strom: wie
komme ich so je wieder nach haus?
(2001/2003)