[79: Titel; 80]
Der Unfall
I
Mit Wucht tritt Schmid die Schaufel wieder in die Kohlen.
Der Staub fliegt wolkig durch das schmale Winterlicht
und legt auf Haut und Kleider eine schwarze Schicht.
Durchs Dunkel poltern Kohlenwürfe an die Bohlen.
Drei Schritte hinter sich weiss er die Einstiegsleiter,
die laut Betriebsleitung stets festzuhalten sei
zur Sicherheit. Wer das verlangt, vergisst dabei,
dass Schaufeln beide Hände braucht. Er schaufelt weiter,
sucht taumelnd mit den Nagelschuhen neuen Stand.
Doch kippen seine Füsse langsam weg, versinken,
und plötzlich stürzt er rücklings an die Silowand,
Die Arme fliegen haltlos wie verlornes Winken.
Schmid kriegt den Schaufelstiel zu fassen mit der Hand:
Man kann doch nicht in einem Kohlenberg ertrinken.
II
Exakt zur Rampe unterm Kohlensilo steuert
er seinen Laster, steigt bei lärmendem Motor
durch knöcheltiefen Schnee und zieht den Schieber vor,
sieht, wie der erste Brocken durch den Auslauf scheuert.
Dann birst ein Strom von Kohlen polternd auf die Planken
der Ladefläche. Plötzlich etwas wie ein Schrei.
Der Chauffeur blickt zum Silo auf, ob etwas sei,
sieht nichts und schliesst den Schieber, ist nun in Gedanken
schon am Steuer: fährt zwei Schritte, öffnet dann
den Schieber nochmals, um die Ladung auszugleichen.
[81]
Jetzt ist es still. Das Kohlensilo schweigt. Ein Kran
lässt lautlos Lasten schweben durch den winterbleichen
Morgen. Er steckt sich eine Zigarette an
und sieht weit oben Dohlen um die Flühe streichen.
III
«Wenn Schmid sich an der Leiter festgehalten hätte –»,
sagt nun am Küchentisch der Mann und rührt im Tee.
«Hier ist die Weisung unsrer Kandergrund AG.»
Sie schweigt. Er sucht nervös nach einer Zigarette.
«Ich meine, insofern –.» Sie lässt ihn weiterreden.
«Ein Unfall, sicher –.» Jakob tot, denkt sie, ihr Mann
erstickt. Sie blickt den Todesboten schweigend an.
So fährt er fort: «Wir haften nicht für alle Schäden.»
Ungläubig murmelt sie: «Kann Jakob was dafür?»
Jetzt steht er auf und sagt: «Was recht ist, wird sich zeigen,
mir tut das alles Leid.» Dann ist er an der Tür.
Sie schaut ihm nach. «Was ihr nicht brecht, das muss sich beugen.
Bis in den Tod nützt ihr uns aus und schuld sind wir.»
Sie räumt die Teller weg. Sie will jetzt nur noch schweigen.
(1996)
[82]
In vergessener Stellung
I
…sitzen wir hier auf exotisch verwachsenen Inseln,
verschanzt und seit Jahren und Jahren ohne Befehl.
Sind wir nicht ratlos ob all des touristischen Volks,
das neuerdings täglich durch unsere Stellungen zieht?
Finden die Leute uns hinter verwachsnen Verhauen
in sauber gebürstetem Dienstkleid mit treulich
gepflegten Waffen: Schwertern und Schilden,
so greifen sie flink nach den Kameras, filmen
und werfen uns freundlich ein Trinkgeld zu,
den Blick schon hangan auf die inneren Wälle
gerichtet, von wo uns seit Menschengedenken kein neuer
Befehl mehr erreicht hat. Manchmal scheint es uns schon,
als ob wir den einen in Shorts, den andern mit
dunkler Brille von früher her kennten: Im Schlenkern
der Arme vermuten wir heimliche Zeichen
der Aufmunterung: Das ist die Verzweiflung.
Hat uns ein längst beendeter Krieg verschmäht?
Wäre es so, der Befehl, nach Hause zu gehen,
hätte uns nicht erreicht…
[83]
II
…überhört? Zugedröhnt von der Idee? Sind wir
doch hierher gekommen mit ihr ganz verbunden zu sein.
Wir haben hier vieles entbehrt, doch nichts von Belang:
Wir lebten am Rande der Welt, doch im Zentrum des Sinns.
Unseres Sinns. Wir brauchten den Feindkontakt nicht,
um zu wissen, was wir nicht wollten: Filmend in Shorts
durchs Leben verwaltet zu werden…
III
…bleibt nichts, als vollständig unbedeutend zu sein.
Hier leben wir in den vergessenen Nischen des
Nicht-mehr-gemeint-Seins. Lockend
neigt sich der Weg aus der driftenden Zeit…
(1999)
[84]
Die Drift
Ihr schenkt Galeeren zur Fahrt und treibt
zum Tanze, Knechte des Windes!
Operativer Alltag schneidet zurecht,
als zerteile das Messer des Arzts einen Körper.
Ungerührt, wie das Auge des Sturms,
vollzieht sich Konzerngewalt. Sie verfügt,
in den käuflichen Labors
Atem umzubauen in Geld und erzwingt
mit den Schlägen metrischer Zeit
den stetigen Nutzen.
Doch uns ist gegeben, in Zeit und Raum
zu vergehn, von Arbeit zu Arbeit
geschichtslos zu driften, blindlings
und ohne Ruder noch Steuer, wie Schwemmholz
im Wasser vor feindlichen Winden,
ewig ins Sinnentleerte hinaus.
(1998)
[85]
Vorspiel
Serviert wird Raubgold: Götterspeisen
aus weltverborgnem Reservoir
für alle, die beruflich reisen,
zur Stärkung gegen die Gefahr.
Als flinke Menschenhändler preisen
sie überall ihr Inventar:
Geordnet steht es auf den Gleisen
und bietet seine Teile dar
zur Selbstzerstückelung gewillt.
Der Stolz der Händler nässt verhüllt.
Der Duft der Geilheit lockt. Auf Bahren
verrichten Schienenkrüppel leis
die Andacht vorm Altar der Waren:
Hat auch ihr Opfer keinen Preis,
so fliessen doch aus Reservoiren
Almosen für speziellen Fleiss.
In seltnen Villenzonen paaren
sich Menschenhändler reich und weiss.
Hier wird die Götterwut gestillt,
die sonst die Welt zur Ordnung brüllt.
(1996)
[86]
Jahrtausendwechsel
Hier reicht es, den Herrn zu verachten,
die Knechte hier spenden Applaus.
Dort lassen die Herren schlachten,
die Knechte dort bluten aus.
Hier wird aus Luxusfood Futter,
dort füttert man Sand aus Not.
Der Armut hier fehlt die Butter,
dem Reichtum dort das Brot.
Hier tragen die Menschen leere
Gesichter, maskiert als Ich.
Dort tragen Maskierte Gewehre
und fordern ein Wir für sich.
Hier Wohlstands-, dort Armutszonen:
getrennt für die Ewigkeit.
So wähnen sich Knechte und Kronen
vom Klassenkampf befreit.
(1997)