Tatort Baustelle

Hochsommer heisst Hochsaison, nicht nur in den Schwimmbädern. Allein in der letzten Woche hat Robert Schwitter, Baustellenkontrolleur der Region Bern, elf mutmassliche Unregelmässigkeiten festgestellt: Verstösse gegen die Meldepflicht, fehlende Aufenthalts- oder Arbeitsbewilligungen.

Baustelle Migros Chly Wabere

Schwitter betritt die Baustelle des Migros Chly Wabere. Hier wird total renoviert. Bei drei kosovarischen Gipsern der Firma Wehrle-Unternehmungen aus Flamatt, die an einem Treppenaufgang arbeiten, bleibt er stehen, weist sich aus, bittet um die Ausweise: Der erste ist in Ordnung. Der zweite, ein B-Ausweis, berechtigt eventuell nur zur Arbeit in der Landwirtschaft. Der dritte Mann hat keine Papiere. In gebrochenem Deutsch sagt er, er habe keine Adresse, arbeite nur heute in der Schweiz. Schwitter bittet ihn, zur Personenkontrolle auf den Polizeiposten Köniz mitzugehen. Den B-Ausweis des zweiten Gipsers steckt er zur Überprüfung ein.

Später kehrt er allein vom Polizeiposten Köniz zurück. Der Gipser habe sich geweigert, den Polizisten Name und Geburtsdatum zu nennen. Mag sein, er kämpft darum, weiterhin Familienangehörige finanziell unterstützen zu können. Der B-Ausweis des zweiten Arbeiters hingegen ist in Ordnung. Zurückgeben kann ihn Schwitter aber nicht: Die beiden zurückgebliebenen Arbeiter sind verschwunden. Die Arbeit haben sie nicht abgeschlossen. Zu befürchten gehabt hätten sie nichts.

Baustelle Kalchackerstrasse, Bremgarten

Auch Unia-Gewerkschaftssekretär Guglielmo Grossi ist regelmässig auf den Baustellen der Region Bern. Er sagt: «Schwarzarbeit und Lohndrückerei hat es schon immer gegeben. Das Problem ist nicht die Personenfreizügigkeit, sondern der Preiskampf. Arbeitgeber, die nicht zu Dumpingpreisen offerieren, haben schon heute oft keine Chance mehr.»

Grossi parkiert sein Auto an der Kalchackerstrasse in Bremgarten. Von Schwitter weiss er, dass hier vier selbständige Maler aus der Region Augsburg gebüsst worden sind. Grund: Verstoss gegen die Meldepflicht beim Berner Wirtschaftsamt Beco. Jetzt sagt einer der Maler vor dem halb gestrichenen Einfamilienhaus, man habe sich unterdessen angemeldet, alles sei in bester Ordnung.

Allerdings arbeiten die vier nicht mit einem Gerüst, sondern lediglich mit Leitern – zum Ärger hiesiger Malermeister: Sie offerieren inklusive Gerüstbau und deshalb bedeutend teurer. Müsste hier nicht die Suva die Arbeitssicherheit durchsetzen? Adrian Bloch, Bereichsleiter Bau bei der Suva, sagt, gegen Selbständige sei einzig möglich, eine Anzeige zu machen, was jedermann tun könne. Der entsprechende Artikel 229 des Strafgesetzbuches heisst «Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde».

Baustelle Schiessplatzweg, Ostermundigen

Grossi fährt an diesem Tag von Baustelle zu Baustelle. In Ostermundigen sagt ein Zimmermann: «Ich habe kein Problem mit ausländischen Kollegen, ich bin ja selber Portugiese. Schwierig wird es, wenn mein eigener Lohn unter Druck kommt.»

Auf einer Grossbaustelle in Gümligen sagt der Polier: «Im Bauhauptgewerbe wird sich durch den freien Personenverkehr kaum etwas ändern. Wir arbeiten in festen Teams und kennen unsere Leute.» Grossi bestätigt, dass im Baunebengewerbe die Lage tatsächlich viel unübersichtlicher ist.

Baustelle Schwandenhubel, Schliern

Später zeigt er in seinem Büro einen eingeschriebenen Brief, der als «Unzustellbar» aus Berlin zurückgekommen ist. Auf der Schlierner Baustelle «Schwandenhubel» haben fünf italienische Gipser im Alter von 26 bis 65 die Meldepflicht verletzt und behauptet, unterschiedslos 19 Euro pro Stunde zu verdienen. Verdacht auf unwahre Lohnangaben.

Recherchen der «Paritätischen Berufskommission des Maler- und Gipsergewerbes» ergaben daraufhin: Die Bauherrschaft Losinger Construction AG und A. Bill AG haben den entsprechenden Auftrag an die Subunternehmerin «Les peintures réunies» im französischen Forbach vergeben. Diese gab ihn weiter an die Arkosa GmbH in Berlin, mit der die Bauherrschaft, die das schweizerische Entsendegesetz einhalten muss, keine vertragliche Beziehung unterhält. Die fünf italienischen Arkosa-Arbeiter hatten bei ihrer Befragung kein Interesse daran, die Anschrift ihres Arbeitgebers exakt anzugeben. So kam der Brief zurück.

Unterdessen haben die fünf ihre Arbeit abgeschlossen und sind abgereist. Sanktionen? Laut Beat Zutter, Fachbereichsleiter der Arbeitsmarktaufsicht beim kantonalen Wiertschaftsamt Beco, sind zurzeit Briefe nach Forbach und Berlin hängig mit der Aufforderung, Belegdokumente zu schicken. Sollte später eine Sanktion ausgesprochen werden, müsste sie per Diplomatenpost via Bundesamt für Migration und Eidgenössisches Departement des Äussern verschickt werden. Das wird dauern.

Fazit

Die Stimmung ist gedrückt: Wo kontrolliert wird, will keiner zu viel gesagt haben. Misstrauen und Verunsicherung sind in den Berufen des Baunebengewerbes grösser als im Bauhauptgewerbe.

Kontrollen sind nötig: Der Baustellenkontrolleur Schwitter hat in einer Woche elf mutmassliche Missbrüche gefunden. Wie viele werden es sein, wenn im Kanton Bern noch in diesem Jahr drei weitere Kontrolleure ihre Arbeit aufgenommen haben?

Die Gewerkschaft ist präsent: Unia-Sekretär Guglielmo Grossi kennt und respektiert man auf den Baustellen. Er gibt Auskunft und weiss Rat und Hilfe. Solche Leute braucht es, denn auf den Baustellen gibt es tatsächlich offene Fragen und Verunsicherung.

Diese Reportage entstand im Zusammenhang mit der Abstimmung zum freien Personenverkehr vom 25. September 2005. Bei einer Stimmbeteiligung von 54,5 Prozent wurde damals mit 56 Prozent Ja-Stimmen eine Vorlage gutgeheissen, die im vollen Wortlaut hiess: «Bundesbeschluss über die Genehmigung und Umsetzung des Protokolls über die Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens auf die neuen EG-Mitgliedstaaten zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits sowie über die Genehmigung der Revision der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit».

Noch vor der Abstimmung erschien im Work der Nachzug «Eine dunkelgraue Herde von Lohndumpern».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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