Ogis Weinkeller

 

«Es gibt, so scheint es, einen menschlichen Massstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können.» (Max Frisch)

Wer Geheimnisse pflegt, schürt Gerüchte. Das Loch, das hinter Kandersteg, in der Eggeschwand, ganz in der Nähe des Lötschbergtunnel-Portals, in den Berg führt, bezeichnet der Volksmund spöttisch als «P 26-Loch», als «Ogis Weinkeller» oder schlicht als «Bundesratsbunker». Drinnen im Eisenbahntunnel der Lötschbergbahn seien ein Ausweichgeleise und ein 60-Tonnen-Lift geplant als Zufahrt in geheime unterirdische Anlagen, der jetzige Eingang werde später wieder verschlossen. 200 Arbeiter seien auf der Baustelle, die meisten Ausländer. Einheimische hätten kaum Aufträge erhalten, alles werde von Auswärtigen gemacht.

In Kandersteg gibt es immer mehr besorgte und misstrauische Leute: «Da reden sie von europäischer Öffnung und Militärreformen, und klammheimlich graben sie an ihren Réduit-Löchern weiter.» Die Bauherrschaft bemüht sich: Als in der Altjahrswoche 1988 vom Fisistock herunter ein mächtiger Felssturz zu Tal donnert und die Bauern des Gasterntals danach der geheimnisvollen Sprengerei im Berg die schuld geben, zeigt sie sich kulant. Auf ihre Kosten sprengt sie im folgenden Sommer hängengebliebenen, lockeren Fels aus der steilen Flanke.

Eine Gruppe besorgter Bürgerinnen und Bürger aus Kandersteg versucht seit diesem Sommer, genauere Informationen zu erhalten: «Was wird in der Eggeschwand für ein Stollen gebaut? Welches Ausmass wird dieser Bau noch erreichen (Landkauf, Häuser usw.)? Hat der Bau auf das Gasterntal als Ausflugsziel und Naturparadies einen Einfluss? Wie ist das geprüft worden? Wann werden die Bauarbeiten beendet sein?» 

Jean-Pierre Froidevaux, Stabschef der Gruppe für Generalstabsdienste (ein P 26-Führungsmitglied) hat geantwortet: «Wie Sie wissen, baut das EMD eine Unterfelsanlage im Interesse der Landesversorgung. Die Bauherrschaft nimmt – wie Sie sicherlich festgestellt haben – grosse Anstrengungen, um den Anliegen der Anwohner, der Bevölkerung des Tales bestmöglich Rechnung zu tragen. Sämtliche Massnahmen wurden selbstverständlich mit den zuständigen kantonalen und kommunalen Behörden einvernehmlich abgesprochen.» Kanderstegs Gemeindeschreiber Heinz Minnig seinerseits verweist in einem Brief auf den Amtsanzeiger von Frutigen, in dem im Herbst 1987 zu lesen war: «Wie das Eidgenössische Militärdepartement dem Gemeinderat mitteilt, wird zur Zeit bei der Baustelle an der Kander häufig gesprengt. Der Gemeinderat hat sich deshalb nochmals über den Bau orientieren lassen. Es handelt sich um eine militärische Anlage im Interesse der Landesversorgung (kein Munitionslager, keine Nagra-Bohrstelle). Der Gemeinderat wird die weiteren Arbeiten aufmerksam verfolgen und die Interessen der Bevölkerung angemessen vertreten.» Dass der Gemeinderat das könnte, muss Minnig selber bezweifeln. Er schliesst: «Weitere Informationen haben wir auch nicht.»

Villiger: «Zivile Anlage»

Am 19. Juni 1990 haben sich die NationalrätInnen um den auf mehrere Jahre verteilten Verpflichtungskredit von insgesamt 250 Millionen Franken für die geheime «Führungsinfrastruktur» gestritten. Dort berichtete Elmar Ledergerber (SP), Mitglied der Militärkommission, Bundesrat Kaspar Villiger habe in  einer Kommissionssitzung gedroht, «es wäre ja für uns durchaus ein Vorteil, wenn wir so geheime Sachen nicht wüssten. Wir würden uns dann nämlich auch nicht gewissen Repressionen von Leuten aussetzen, die diese Informationen gerne hätten.» Und Hans-Rudolf Feigenwinter (CVP) als «Berichterstatter» der Kommission: «Niemand hat im Grunde gewusst, worum es sich gehandelt hat. Das ist mindestens ein guter Beweis dafür, dass die Geheimhaltung noch spielt.» Er hat auch die Namen jener Nationalräte genannt, die als «Untergruppe» der Militärkommission 1987 umfassend über dieses Projekt orientiert worden sind: François Jeanneret (lib.), Pierre de Chastonay (CVP), Jacques Martin (FDP), Max Chopard (SP) – und der nachmalige Kandersteger Bundesrat Adolf Ogi (SVP).

Wegen der Opposition gegen den diskutierten Kredit sah sich Villiger im Nationalrat zu einigen zusätzlichen Angaben genötigt. Es handle sich um «eine zivile Anlage, d.h. eine Anlage für die Regierung. Deshalb ist der Bundeskanzler [Walter Buser (SP), fl.] Bauherr. Der Kredit ist einfach mit im Militärbudget. (...) Es sollen dort der Bundesrat, aber auch die Stäbe der Departemente und gewisse Sonderstäbe hineingehen können.» Staatsmännisch resümierte er: «Wir sind hier in einem Zielkonflikt zwischen Anspruch der Öffentlichkeit auf Information und berechtigten Geheimhaltungsinteressen.» Allerdings.

Dürrenmatt: «Nicht ganz hundert»

Von seinem posthumen Gang durch den Berg (vgl. Seite 1 [resp.: unten]) hat Friedrich Dürrenmatt der WoZ via Telefax von einer entlegenen Post auf halbem Weg zwischen Erde und Himmel seinen Bericht übermittelt (vgl. Kasten [resp. unten]). Was er gefunden hat, nennt er in einer launigen Randnotiz «P 99»: «Eigentlich hundertprozentig sicher, angesichts des Gigantismus des Hirngespinstes aber sicher nicht ganz hundert.» Nach seinen Angaben zieht sich der Stollen über zwei Kilometer unter den Fisistock bis zu einer Hauptverzweigung. Die Abzweigung nach rechts führe steil nach oben ins Gasterntal, nach links unter das Gebiet von Oeschinensee, Doldenhorn und – eben – Blüemlisalp. Der Rauminhalt der Stollenteile, die er besichtigt hat (Dürrenmatt ist bei seinen Höhlenwanderungen nirgends an ein Ende gekommen), schätzt er auf ungefähr 60000 Kubikmeter (die beim Herausbrechen entstehenden Hohlräume eingerechnet also ungefähr 100000 Kubikmeter abzutransportierendes Gestein.)

Die gesamte Anlage muss aber noch weit grösser werden. David Schüpbach, Geschäftsführer der Kiestag AG in Wimmis, die das anfallende Kalkgestein weiterverwerten wird, rechnet mit 300000 Kubikmeter Ausbruch, dessen grösster Teil ab Frühling 1991 anfallen werde (der Gesamtausbruch aus dem 14,5 Kilometer langen Lötschbergtunnel betrug gut 840000 Kubikmeter). Damit die Felsbrocken per Bahn überhaupt nach Wimmis gebracht werden können, ist ab Bahnhof Heustrich über eine neu gebaute, am 1. November 1990 eingeweihte Kanderbrücke ins Gebiet von Steinigand ein Industriegeleise erstellt worden (Kostenpunkt 10 Millionen Franken, davon 4 Millionen staatliche Betriebsstoffzollgelder). Schüpbach: «Der direkte Anlass für diese Investition war der Bau in Kandersteg. Aber für die Kiestag war sie auch eine Zukunftsinvestition.» Kunststück: Im  Zusammenhang mit der Neuen Alpentransversalen ist ein Eisenbahntunnel ab Kandergrund oder Heustrich Richtung Wallis im Gespräch.

Aber auch in Kandersteg waren für den Abtransport der Felsmassen Bauten am Geleise der Lötschbergbahn notwendig. Hinter dem Bahnhof wurde eine neue Geleisewechselstelle eingebaut, Richtung Eggenschwand eine Abzweigung, wo über eine speziell aufgeschüttete Rampe die Eisenbahnwagen mit dem Fels beladen werden. Weil der Boden für diese Anlage im Besitz der beiden Hotels «Gemmi» und «Alpenrose» war, hat das EMD die beiden Liegenschaften kurzerhand gekauft (und anschliessend verpachtet).

Buser: «Führungsinfrastruktur» in Kandersteg

Überraschenderweise macht Erich Buser, Projektdelegierter der Gruppe für Generalstabsdienste im EMD und Chef auf dem Kandersteger Bauplatz, kein Geheimnis daraus, dass diese Anlage «Teil der im Nationalrat letzten Sommer diskutierten Führungsinfrastruktur» sei. Er bedauert, dass die Nationalräte erst im Sommer [1990] zu kritisieren begannen, nachdem alles längst geplant und zum Teil bereits ausgeführt worden sei; die geplanten Gesamtkosten von 250 Millionen Franken bestätigt er. An den Besuch von Militärkommissionsmitgliedern in Kandersteg 1987 erinnert er sich gut, namentlich an Adolf Ogi und Walter Buser. Die entsprechende ständerätliche Kommission  habe erst im letzten Sommer vorbeigeschaut. Das EMD – er sagt «die Verteidigungs-GmbH» – mache ja nur, was die Politiker sagen: «Die Kredite werden kontrolliert. Wir brauchen nicht mehr Gelder als bewilligt werden.» Am Schluss seiner zuvorkommenden, anderthalbstündigen telefonischen Ausführungen meint Buser, mehr als er jetzt gesagt habe, wüssten die Gemeindebehörden in Kandersteg auch nicht. 

Übrigens: In Dürrenmatts «Winterkrieg in Tibet» (vgl. S. 1 [resp. unten]) fällt selbstverständlich gleich zu Beginn des beschriebenen Krieges eine Atombombe auf die Blümlisalp. Die Regierung überlebt «als intakte Regierung ohne Volk». Wäre es nicht an der Zeit, dass die Herren Walter Buser, Bundeskanzler und Bauherr, und Erich Buser, Projektleiter der geheimen Lochs, der Kandersteger Bevölkerung erklären gehen, was mit ihr und dem ganzen Tal passiert, falls die hohen Herren dereinst ernstfallmässig in den Berg einzufahren gedenken?

Ausgangspunkt der Recherche war ein anonymer Brief, der am 10. Dezember 1990 an das Postfach der WoZ-Aussenstelle Bern geschickt worden war. Vgl. zu diesem Thema auch die stark erweitere Fassung dieser Reportage unter dem Titel «Der neue Bundesratsbunker» im Reportagenband «Mit beiden Beinen im Boden»

  

[Kasten]

Friedrich Dürrenmatts Bericht: Das Projekt «P 99»

«Ohne das Wagnis von Fiktionen ist der Weg zur Erkenntnis nicht begehbar.» (Friedrich Dürrenmatt)

Ca. 400 m vom Portal entfernt beginnt eine sanfte Linkskurve, etwas weiter beginnt die beleuchtete Strecke, vom Portal aus nicht sichtbar. Das dumpfe Grollen der Züge zeigt die Nähe des Lötschbergtunnels, welcher hier überquert wird. Der ganze Stollen ist mit Beton abgedichtet, teilweise mit Stahlträgern verstärkt. Das erklärt die grosse Betonmischanlage.

Die sanfte Rechtskurve folgt bei 1100 m (die Distanzen sind alle 50 m an der linken Wand sauber markiert), worauf der Stollen bis zu km 2 gerade ist. Bis 1700 m ist der Stollen im Rohbau fertig mit den zwei Baubahn-Gleisen und dazwischen dem mit Holz abgedeckten Wasserabfluss. Zum Wasserabfluss: Die ganze Anlage ist so geneigt, dass das Wasser zügig abfliesst und beim Portal ein noch offenes Klärbecken durchquert, um dann durch ein Gitter die Kander zu erreichen. Ich bin erstaunt über die Wassermenge überall im Stollen. 

Bei 1700 m beginnen die Abzweigungen, welche teilweise im Rohbau fertig sind und teilweise erst gebohrt werden. Ich beschliesse, zuerst bis ganz hinten zu gehen und auf dem Rückweg die Abzweigungen zu erkunden, falls ich noch Zeit haben werde. Bei der Verzweigung km 2 halte ich mich also rechts, wo sich verschiedene Baumaschinen befinden. Ca. 1200 m unter dem Fisistock ist diese Abzweigung – auf welchen von Kandersteg aus eine nichtöffentliche Seilbahn führt (…) Etwa nach 300 m ist der sanft geneigte Teil des Stollens in einer Kaverne zu Ende, jedoch zeigt der starke Luftzug (ohne Ventilatorgeräusch) eine Fortsetzung an. Der etwas engere Stollen stiegt geradeaus in einem Winkel von ca. 45 Grad an. Die Holztreppe an der rechten Wand ist eng und mühsam, die Sohle des Stollens ist hier mit Aushub gefüllt. Nach ca. 400 m ist rechts eine Abzweigung mit einem kleinen Bagger – wird hier die Ventilation geplant? Der Stollen geht noch höher, ich sehe ein helles Kunstlicht weit oben und ein Gleis, welches vom Portal Gasterntal bis hierher reicht. Da der Aufstieg ermüdet (gebücktes Hinaussteigen) und ich ja auf dem Rückweg die Abzweigungen noch erforschen will, kehre ich um. Ich bin nun eine Stunde im Stollen.

Hinunter geht es leichter, bald schon bin ich wieder in der Kaverne unten am Schrägstollen. Der Rohbau ist hier noch nicht fertig, der Querschnitt des Stollens kleiner. Etwas abseits finde ich einen senkrechten Schacht nach unten (ca. 30 m tief und 3-4 m Durchmesser, unten mit Wasser bedeckt. Welchen Zweck hat wohl ein solches Loch – gibt das die eigene Wasserversorgung?).

Bald erreiche ich wieder den km 2, die hintere Abzweigung des geraden Hauptstollens, diesmal gehe ich in den andern Stollen, welcher Kurven macht und deutlich ansteigt. Nach ca. 200 m rechts wieder ein grosses Loch, ca. 10 m senkrecht nach unten in eine Kaverne, unbeleuchtet. Nun wird mir das Ganze zuviel. Ich befürchte, mich zu verlaufen, zu komplex wird mir die Anlage.

 

[Anriss auf Seite 1, WoZ 1+2 / 1991]

Enthüllungsjournalist Friedrich Dürrenmatt: Geheimnisvolle Blümlisalp

 

Vor dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs, so berichtet der Enthüllungsjournalist Friedrich Dürrenmatt 1981 in seinem Bericht über den «Winterkrieg in Tibet» [= «Stoffe 1»], «hatten sich die Regierung, die Staatsbehörde und die beiden Parlamente in die grossen Bunker unter der Blümlisalp zurückgezogen, schien doch eine gegen jeden Angriff geschützte Legislative und Exekutive die Vorbedingung jeder Landesverteidigung. Das Parlamentsgebäude der Hauptstadt war unter der Blümlisalp genau nachgebildet, samt der Geheimanlage darunter und den Funkanlagen. Sogar die gleiche Aussicht, Dekorateure vom Stadttheater hatten mit vergrösserten Fotografien und Scheinwerfern dafür gesorgt. Um die Anlage herum waren die Wohnungen, die Kinos, die Kapelle, die Bars, die Kegelbahnen, das Spital und das Fitness-Center in die Blümlisalp gebaut. Darum herum  lagerten sich die drei ‘Ringe’: der Versorgungsring mit den Lebensmitteln und den Weinkellern (besonders Waadtländer), der innere und der äussere Verteidigungsring. Unter der ganzen Riesenanlage die Tresorräume mit den gehorteten Goldbarren der halben Welt, und unter diesen ein Atomkraftwerk. (…) Die Haltung der Bevölkerung gegenüber der Regierung war geradezu feindselig. Sie wusste die Regierung, die Behörden und das Parlament – fünftausend Leute – unter der Blümlisalp in Sicherheit, sich selber aber nicht.»

Nein, es wird dem Bundespräsidenten Flavio Cotti trotz heissem Bemühen nicht gelingen, diesen begnadeten Recherchierjournalisten zum Staatsdichter zu verharmlosen. Denn was Cotti nicht weiss: Nach Dürrenmatts Tod am 14. Dezember 1990 hat der liebe Gott ihm vor der Abreise in den Himmel einen letzten Wunsch gewährt. Dürrenmatt hat sich gewünscht, nachsehen zu dürfen, wie es unter der Blümlisalp heute aussieht. Bei seiner Besichtigungstour hat er dann einige Oberländer Eisenbähnler bös erschreckt, denn mit dem Communiqué vom 7. Januar 1991 bestätigt die Lötschbergbahn BLS auf eine Anfrage der WoZ: Der Bahnhof Kandersteg habe in  der Tat Mitte Dezember «einen Sicherheitshalt eines Zuges angeordnet». Angeblicher Grund: «Ein Missverständnis in der Kommunikation zwischen Baustelle und Bahnwache» bei Sprengarbeiten im Gebirgsmassiv, das sich hinter Kandersteg erhebt und bis hinüber zur Blümlisalp reicht. «Es sind keine Schäden entstanden», schreibt die erleichtere BLS. Im Gegenteil! Dürrenmatts Bericht aus dem Berg, der endlich Metaphysik und Enthüllungsjournalismus versöhnt   Seite 3

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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