Leiden hat viele Ursachen

Über Kopfhörer habe sie Mozart gehört, sagt die 72jährige Gerta Fankhauser*, während sie die Bettdecke zurückschlägt und die Trainerhose übers Knie heraufzieht. So habe sie das Hämmern und Sägen nur von fern gehört. Das rechte Knie ist aufgeschwollen und von abheilenden Blutergüssen grünlich-gelb verfärbt. Ein langes Pflaster bedeckt die wohl fünfundzwanzig Zentimeter lange Narbe. Hier hat man ihr vor einer Woche auf der chirurgischen Abteilung ein künstliches Gelenk eingesetzt und sie danach auf ihren Wunsch hin hierher verlegt. Rundum zufrieden sei sie hier. Sogar «einen Willkommenswickel» habe man ihr appliziert, als sie eingetroffen sei. Das Essen aus der Vollwertküche sei ausgezeichnet, und die Schmerztabletten, gegen die sie misstrauisch ist, müsse sie zum grösseren Teil schon nicht mehr nehmen, obschon sie ihr neues Knie bereits wieder wacker belaste.

Pragmatische Homöopathie

«Bei Frau Fankhauser haben wir mit einer klassischen homöopathischen Verordnung von Arnika als Einzelmittel die chemischen Schmerzmedikamente zum Glück schnell reduzieren können», sagt Hansueli Albonico, der leitende Arzt der komplementärmedizinischen Abteilung des Regionalspitals Emmental in Langnau. So sei es nach der Knieoperation bisher gelungen, ein Wiederaufflammen von Frau Fankhausers chronischer Polymyalgie, einer Art Weichteilrheuma, zu verhindern.

Überhaupt eignen sich homöopathische Medikamente für die Schmerzbekämpfung sehr gut, wie Albonico an einem Beispiel erläutert: Letzthin sei aus einem anderen Spital eine Asylsuchende hierher überwiesen worden, die trotz vier höchstdosierten Schmerzmedikamenten an extremen Rückenschmerzen litt. Innert zehn Tagen habe man diese Dosierung dank homöopathischer Mittel halbieren können. Allerdings wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen ohne gleichzeitige intensive «Patientenarbeit», das heisst: ohne Aufnahme der Krankengeschichte, körperliche Untersuchung und intensive Gespräche über mögliche psychische und soziale Gründe für das Leiden. Aufgrund dieser Arbeit sei schnell klar geworden, dass die Patientin nach schrecklichen Kriegserfahrungen hier in der Schweiz mit einer aufdeckenden Psychotherapie ihre Geschichte aufzuarbeiten versucht habe, aber dabei schnell überfordert gewesen sei. Die unerträglichen Schmerzen seien eindeutig die Folge einer posttraumatischen Belastungsreaktion, denn der Rücken habe nur durchschnittliche Abnützungserscheinungen gezeigt. Neben der Schmerzbekämpfung hätten in diesem Fall deshalb die Unterbrechung der Psychotherapie, die soziale Abfederung der Familiensituation und der geschützte Rahmen der Spitalabteilung Linderung gebracht.

Wo ein spezifischer Schmerz ist, muss eine spezifische chemische Substanz wirken: Dieser kruden schulmedizinischen Kausalität misstraut man hier. Leiden kann körperliche, psychische und soziale Ursachen haben, deshalb können verschiedene therapeutische Ansätze Linderung oder Heilung bringen. In Langnau werden deshalb Erkenntnisse der anthroposophischen Medizin (inklusive Psychotherapie, Maltherapie und Heileurythmie) kombiniert mit Phytotherapie (Behandlung mit Ganzpflanzen-Heilmitteln) und Homöopathie angewendet.

Pflege als Therapie

Diese komplementärmedizinische Herangehensweise an die Krankheit hat auf der Abteilung die standespolitisch oft unüberwindlichen Grenzen zwischen Medizin und Pflege an Bedeutung verlieren lassen. Zwar wird eine klar ärztlich geleitete Komplementärmedizin praktiziert, die sich als Ergänzung zur westlichen Medizin versteht. Aber insbesondere die «äusseren Anwendungen» – Wickel, Auflagen, verschiedenste Voll- und Teilbäder, Schröpfen und rhythmische Einreibungen – werten die pflegerischen Tätigkeiten auf: Hier hat Behandlung noch mehr mit den Händen als mit dem Computer zu tun.

«Wir bieten die äusseren Anwendungen nicht als Wellness, sondern im Rahmen einer ärztlichen Verordnung als Therapie an», sagt Trudi Hostetter, die stellvertretende Pflegeabteilungsleiterin. Das sei einer der Gründe, warum die Arbeit auf dieser Abteilung speziell interessant und begehrt sei, laufend nach Arbeit nachgesucht werde und immer wieder Spitzenleute eingestellt werden könnten. Der andere Grund ist der, dass PatientInnen aus den Fachbereichen Chirurgie, Medizin, Gynäkologie oder Psychiatrie gleichermassen auf der komplementärmedizinischen Abteilung zugewiesen würden. Indikation sei weniger die medizinische Diagnose, als vielmehr der Wille des Patienten oder der Patientin, auf diese Abteilung verlegt zu werden. Dies mache den Alltag hier abwechslungsreich. Kein Tag sei wie der andere: «Nichts ist kanalisiert und schematisiert.»

In den sieben Jahren, in denen die Abteilung nun betrieben wird, haben sich als Schwerpunkte der psychosomatische Bereich und die Palliativpflege – also die lindernde Sterbebegleitung, vor allem von Krebskranken – herausgebildet. Auch hier seien die vielfältigen Methoden der Schmerzlinderung durch äussere Anwendungen von grosser Bedeutung, damit der Einsatz von Morphium möglichst gering gehalten werden könne. Albonico: «Natürlich soll man die Leute nicht unnötig leiden lassen. Aber wir halten es für wichtig, dass die Sterbenden am Sterbeprozess teilnehmen können und nicht einfach abgeschaltet werden. Wer weiss denn schon, was es bedeutet, wenn man völlig verladen in den Tod geht?»

Herzwickel statt Tabletten

Unterdessen erzählt Gerta Fankhauser, was ihr auf dieser Spitalabteilung am meisten imponiert: «Hier duzen sich Ärzte und Pflegende. Es ist fast wie in einer grossen Familie. Alles geht miteinander, nichts gegeneinander.»

An diesen flachen Hierarchien in der Abteilungskultur wird täglich gearbeitet. Nach dem Morgenrapport trifft sich das ganze Ärzte- und Pflegeteam im Office zu einer kleinen Befindlichkeitsrunde bei einem Tee; nachmittags findet noch einmal ein Rapport statt, an dem auch aufgestauter Ärger und Kritik ausgesprochen werden können. Regelmässig trifft sich das Team zudem zur Intervision.

Der Kultur der Abteilung kommt aber auch deren Überschaubarkeit zugute. Sie umfasst heute zwölf Betten, wovon deren vier für die Psychosomatik reserviert sind. Die durchschnittliche Bettenbelegung liegt bei achtzig Prozent. Auf der Abteilung arbeiten neben Albonico auch zwei Oberärzte und ein Psychiater. Während der Woche umfasst das Team tagsüber fünf bis sechs Pflegende, an Wochenenden vier und während des Spätdiensts jeweils zwei. Die Nachtwache hat zusammen mit einer Schwesternhilfe neben der eigenen auch eine medizinische Abteilung des Spitals zu betreuen.

Letzteres ist pikant: Denn auf der einen Abteilung soll die Nachtwache die Schlaflosen und Unruhigen nach dem Willen der anordnenden Ärzte komplementärmedizinisch, auf der anderen schulmedizinisch betreuen. Trudi Hofstetter: «Es ist auch schon vorgekommen, dass ich als Nachwache einen Wickel nach unten mitnahm, ihn einem schlaflosen Patienten aufs Herz legte und er darauf bis morgens um sieben herrlich schlief. Da fragt man sich schon, warum man chemische Mittel abgeben soll, wenn es mit einem Wickel gemacht ist.» Allmählich würden auch ihre Kollegen und Kolleginnen auf den anderen Abteilungen neugierig auf das komplementärmedizinische Pflege-Know-how. Leider sei die Durchlässigkeit auf der medizinischen Ebene bedeutend kleiner als auf der pflegerischen.

Der Abteilungskater Alex

Ein Argument, das aus der Sicht der Gesundheitspolitik für diese Abteilung spricht, ist ihre Kostengünstigkeit. Wer hier liegen will, braucht keinerlei Zusatzversicherung, die Krankenversicherer haben der Abteilung unterdessen per Attest bestätigt, dass sie preisgünstig arbeite. Der Grund: Die aufwendige «Patientenarbeit», die hier geleistet wird, ist billiger als die Schulmedizin mit ihrer schematischen Absicherungstendenz gegen jede Eventualität. Albonico: «Klar ist es einfacher, wenn man auf dem Verordnungszettel für den Laboruntersuch gleich alles ankreuzt und routinemässig für jede Diagnose ein schulmedizinisches Medikament verordnet. Aber billig ist das nicht. Indem wir Anamnese und Krankheitsursachen möglichst umfassend erheben, können wir viele teure Abklärungen entweder unterlassen oder dann zumindest gezielter einsetzen.»

Unterdessen sind wir auf unserem kleinen Rundgang am Ende der Abteilung angelangt. Hier öffnet sich eine Glastür zur breiten Feuerleiter, die aus dem ersten Stock in die Parkanlage hinunterführt. Irritierend ist, dass innerhalb dieser Tür das Futtergeschirr einer Katze steht. «Ach so», sagt Albonico, «das ist für den Abteilungskater Alex. Er arbeitet hier mit: Er sucht sich immer wieder Patienten aus, die er danach besucht, solange sie hier sind. Und immer wieder wählt er solche aus, die ihn wirklich nötig haben.»

* Name geändert

In der WOZ erschien der Beitrag unter dem Titel «Die andere Abteilung».

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