Am 19. Februar 1993 fällt die VII. Kammer der Schweizerischen Asylrekurskommission betreffend «Verweigerung des Asyls und Wegweisung» in Sachen Semsettin Kurt ihr zweitinstanzliches Urteil: Der 29jährige Kurde habe die Schweiz bis zum 31. Mai 1993 zu verlassen. Er sei «durch das Militärgericht von Malatya freigesprochen worden», es bestünden deshalb «keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass ihm bei der Rückkehr in sein Heimatland mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung» drohe.
Richtig ist, dass Semsettin Kurt am 3. Oktober 1989 in Malatya von der Anklage, ein Kurier der kurdischen Befreiungsarmee PKK und Mitglied einer Untergrundorganisation zu sein, freigesprochen worden ist. Aufgrund eines ärztlichen Gutachtens wurde ihm die «Strafmündigkeit» abgespochen. Gleichzeitig jedoch wurde er «unter medizinische Bewachung», die «nicht kürzer als ein Jahr» sein sollte, gestellt und an die «nächste Heilanstalt» übergewiesen. Diesen zweiten Teil des Urteils haben sich die schweizerischen Asylbehörden weder der ersten noch der zweiten Instanz übersetzen lassen.
Semsettin Kurt – «ledig, des Lesens und Schreibens mächtig, nicht vorbestraft, Arbeiter, türk. Staatsangehöriger, Islam», wie das Urteil von Malatya festhält – hat in der Türkei, wie viele andere Kurden auch, seit 1983 als Sympathisant der kurdischen Arbeiterpartei PKK zwischen Militanten Briefe hin- und hergetragen. Er hat Geld gesammelt, Zeitschriften verteilt, Gefängnisbesuche gemacht. Weil er 1984 mehrmals aus dem Militärdienst davonlief, wurde er mittels ärztlichem Gutachten für dienstuntauglich erklärt.
Am 14. August 1989 wird er mit Briefen an PKK-Aktivisten in flagranti erwischt, verhaftet, gefoltert, nach dreizehn Tagen wieder freigelassen. Der Spitzel, der ihn angezeigt hat, wird am 31. August von PKK-Aktivisten erschossen. Bereits Anfang September 1989 wird Semsettin Kurt wieder für zwei Wochen verhaftet und erneut massiv gefoltert. Nach dem Urteil von Malatya am 3. Oktober wird zwar die psychiatrische Versorgung aufgeschoben, jedoch wird Semsettin Kurt seither immer wieder tagelang festgehalten. Die Behörden hätten versucht, ihn als Informant zu gewinnen, hat er später erzählt. Damals begeht er einen ersten Selbstmordversuch.
Am 6. September 1990 verlässt er die Türkei Richtung Rumänien. Dort versucht er, vermutlich beim IKRK, erfolglos, ein Asylgesuch einzureichen. In Bukarest begeht er aus Verzweiflung einen Selbstverbrennungsversuch. Am 5. Juli 1991 gelingt es ihm, illegal in die Schweiz einzureisen und ein Asylgesuch zu stellen. Er lebt zuerst ein knappes Jahr in einem Flüchtlingszentrum der Heilsarmee in Bern, danach zusammen mit kurdischen Kollegen in einer Wohnung in Köniz. Weiterhin engagiert er sich an der Informations- und Propagandaarbeit für die kurdische Sache.
Am 24. Mai, eine Woche vor der angedrohten Wegweisung, erhält die Asylrekurskommission ein Revisionsgesuch im Fall Semsettin Kurt. Als Beweismittel liegt nicht nur das nun vollständig übersetzte Urteil von Malatya bei, sondern unter anderem auch ein Gutachten der psychiatrischen Universitätspoliklinik Bern. Danach leidet Semsettin Kurt an stark belastenden Angstträumen, an «Flashbacks» (körperlichem und psychischem Wiedererleben der Folter), Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, vermehrter Vergesslichkeit: «Diese Symptome finden sich in dieser Kombination typischerweise als Folge extremer Traumatisierungen und sind mit den vom Patienten beschriebenen Folterungen vereinbar.» Festgestellt werden im weiteren Narben am Hinterkopf, am rechten Vorderarm, am rechten Schienbein und Knöchel, grosse Schwellungen an den Fussinnenseiten sowie schmerzhafte Druckempfindlichkeit im Unterbauch und in der Nierengegend.
Am 25. Mai 1993 hat die Asylrekurskommission den Vollzug der Wegweisung von Semsettin Kurt «bis zum Entscheid über das Revisionsgesuch» sistiert. Am 24. Juni 1993 ist Semsettin Kurt aus der türkischen Botschaft in Bern – während einer Demonstration für ein freies Kurdistan – von einem türkischen Botschaftsangehörigen erschossen worden.
(Redaktionelle Bearbeitung: 1994.)