Es war ein fulminanter Misserfolg der institutionellen Psychiatrie: 1977 wurde ein psychotischer Student der Erziehungswissenschaften, Jahrgang 1950, zwangseingewiesen. Der Patient wurde routinemässig hoch dosiert mit Neuroleptika behandelt. Er vertrug die Therapie schlecht, mehrere komaartige Krisen überlebte er nur knapp, zudem waren die Nebenwirkungen erheblich – die Mittel hatten einen chronischen Leberschaden und zwanghafte Bewegungsunruhe zur Folge. Nach ein paar Wochen wurde der völlig apathische Patient entlassen; ein injiziertes Depotneuroleptikum sollte ihm die Rückkehr in den Alltag erleichtern. Vier Jahre später der Rückfall. Er hatte zur Folge, dass der Patient jede Krankheitseinsicht verlor und sich darauf versteifte, gesund zu sein. Dieser Wahn würde sich nach Kurierung des Rückfalls von selbst verlieren, dachten die Fachleute. Das war ein Irrtum. Der Mann fiel in den folgenden Jahren einem irreversiblen Gesundungsprozess anheim und begann das ganze System, in das hinein er geraten war, zu hinterfragen. Und zwar so konzis und vernehmlich, dass auch heute noch viele gestandene PsychiaterInnen im deutschsprachigen Raum nur ratlos-empört nach Luft schnappen, wenn sie bloss seinen Namen hören: Peter Lehmann.
Lehmann kann tatsächlich irritieren. Etwa, wenn er mit dem charmantesten Lächeln heilige Kühe der Psychiatrie schlachtet und in deren Grundlagen nur reduktionistische Biologismen erkennt oder eine mit wissenschaftlichen Argumenten getarnte Abhängigkeit von der Pharmaindustrie. Oder wenn hinter der Sanftmut für Augenblicke jene Unerbittlichkeit aufblitzt, die ihn im letzten Vierteljahrhundert zu einem der wichtigsten Köpfe einer neuen antipsychiatrischen Kritik gemacht hat: War in den sechziger und siebziger Jahren diese Kritik von dissidenten Ärzten wie Ronald D. Laing, David Cooper oder Franco Basaglia vorgetragen worden, spricht diese neue Kritik mit den Stimmen der Betroffenen.
Publizistische Gegenoffensive
Nach seiner unsanften Begegnung mit der Klinikpsychiatrie ging Peter Lehmann nach Berlin. 1980 hat er dort die «Irren-Offensive» mitbegründet (und sie 1989 wieder verlassen), 1996 das «Weglaufhaus» und 2002 den «Verein für alle Fälle»[1]. Dieser bietet Fortbildung aus der Perspektive von Psychiatriebetroffenen an und betreibt unabhängige Forschung. Zudem hat er seit 1986 den Antipsychiatrieverlag aufgebaut, dem heute eine Internetbuchhandlung sowie unter dem Namen Peter Lehmann Publishing Tochterfirmen in Grossbritannien und in den USA angeschlossen sind.
Lehmanns erstes Buch erschien 1986 und hiess «Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen» – ein auf 447 Seiten ausgebauter Abschnitt seiner nie abgeschlossenen erziehungswissenschaftlichen Dissertation über den Sinn des Wahnsinns. Das Buch wies mit wissenschaftlicher Akribie nach, dass Neuroleptika – neben dem Elektroschock die stärkste psychiatrische Waffe gegen psychotische Störungen – die PatientInnen zwar sozial unauffällig, dafür aber auf vielfältige Weise körperlich krank machen und statt zur Heilung zu chronischen Störungen führen.
Spätere Veröffentlichungen Lehmanns sind zum Beispiel «Schöne neue Psychiatrie» (1996, zweibändig) und «Psychopharmaka absetzen» (1998) – letzteres ein veritabler Bestseller, der deutsch in zweiter Auflage sowie auf Englisch vorliegt und Anfang 2008 auf Italienisch und auf Griechisch erscheinen soll.
Aber, Peter Lehmann, inzwischen gibt es doch viel besser verträgliche Neuroleptika, die ein Segen sind. Ist heute nicht überhaupt alles besser? Lehmann greift lächelnd zum neuen Buch. Das Zitat zu den Nebenwirkungen der neueren Neuroleptika, das er vorliest, stammt aus dem Jahr 2003 und ist von Gerhard Ebner, dem Direktor der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel und Präsidenten der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärzte: «Es handelt sich nicht um weniger Nebenwirkungen, sondern um andere, die aber ebenfalls sehr einschneidend sein können, auch wenn sie von den Patienten nicht unmittelbar wahrgenommen werden, weswegen die Patienten leichter zur Einnahme dieser Antipsychotika motiviert werden können.»
Gegen den Zwang zur Pille
Lehmann ist überzeugt, dass die neuen Neuroleptika zwar anscheinend verträglicher sind, weil sie weniger parkinsonartige Symptome auslösen, sich längerfristig jedoch als heimtückischer erweisen, «weil es beim Versuch, sie abzusetzen, sogar bei jenen Patienten und Patientinnen zu Psychosen kommen kann, die sie zuvor gar nicht wegen einer Psychose verschrieben erhalten haben». Deshalb fürchteten sich nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Ärzte und Ärztinnen vor dem Absetzen der gern und schnell verordneten Tabletten. Auch deshalb hielten sie an der biologistischen Lehrmeinung fest, psychische Krisen seien in jedem Fall Ausdruck «unheilbarer anlagebedingter Stoffwechselerkrankungen».
Überhaupt sei die Mainstreampsychiatrie ohne die Pharmaindustrie nicht denkbar, fährt Lehmann fort. Die Industrie übe mit den Mitteln von Sponsoring und Public Relations grossen Einfluss auf die psychiatrische Ausbildung ebenso wie auf Kongresse und Fachzeitschriften aus. Auch viele Angehörigenverbände und Selbsthilfeorganisationen seien von der Industrie gesteuert. Zudem beruhe die Weiterbildung vieler ÄrztInnen in Psychopharmakologie zu einem grossen Teil auf den Besuchen von PharmavertreterInnen, die das Anpreisen ihrer neuen Ware mit Geschenken und Honorarversprechen für Studienteilnahmen zu verschönern wüssten.
«Das wirkt. Zwei Drittel der abgegebenen Psychopharmaka werden nicht von Fach-, sondern von allgemeinen Ärzten verschrieben. Auch in der Schweiz.» Zwang werde so gesehen nicht nur durch Internierung und Zwangsbehandlung ausgeübt: «Es gibt auch einen psychiatrischen Zwang durch Unterdrückung von Alternativen.» Diese Alternativen aufzuzeigen, versucht Lehmann in seinem neuen Buch «Statt Psychiatrie 2». Der erste Band liegt gut fünfzehn Jahre zurück. Beim neuen zeichnet neben ihm Peter Stastny als Mitherausgeber, ein in New York lehrender Psychiatrieprofessor.
Im Buch kommen viele unterschiedliche Stimmen zu Wort. Sie verkünden keine dogmatische Wahrheit, sondern bezeugen anti-, nicht- und postpsychiatrische Praxis; keine Patentrezepte, dafür viele positive Beispiele. Unter den 61 AutorInnen aus allen Kontinenten finden sich neben vielen Psychiatriebetroffenen und Angehörigen auch VertreterInnen aus Medizin, Rechts- und Sozialwissenschaften.
Verrücktheit persönlich nehmen
Die Antipsychiatrie, die nun in diesem zweiten Band zu Wort kommt, ist laut Lehmann eine «humanistische». Neben dem Schutz vor Zwangsbehandlung gehe es darum, «menschliche Alternativen im Sinn der Begleitung von Menschen in psychischer Not» zu zeigen. Denn: «Ohne Aktivierung des Selbsthilfepotenzials der Betroffenen ist kein Fortschritt denkbar hinsichtlich Therapie und persönlicher Entwicklung hin zu einem selbstbestimmten Leben.» Deshalb interpretiert er die griechische Vorsilbe «anti» nicht mehr nur im Sinn von «gegen» (wie das in den achtziger Jahren noch weithin üblich war), sondern auch von «unabhängig» und «alternativ».
Der letzte Satz im Erfahrungsbericht von Andy Smith, einem englischen Betroffenen, könnte als Motto für das Buch dienen: «Verrücktheit ist eine höchst persönliche Erfahrung, ihre Behandlung sollte es ebenfalls sein.» Smith lebt mit einer persönlichen Assistentin, die ihn im Alltag unterstützt und so hilft, Klinikeinweisungen zu vermeiden. Ihre Lohnkosten sind um ein Vielfaches geringer, als es die Klinikaufenthalte wären. Die Inderin Bhargavi Davar schreibt: «Ich verstehe andere und kann mich in sie einfühlen, wenn sie Depression als Krankheit begreifen und sich selbstbestimmt für Psychopharmaka entscheiden.» Aber ihr Weg sei ein anderer: «In der Erfahrung der Depression wird ein Selbst begraben, das darauf wartet, wiedergeboren zu werden.»
Eine Reihe von Betroffenen berichtet so von vielen möglichen Wegen: von naturheilkundlichen und nichtmedizinischen Alternativen, von Fastenkuren, Rohkosternährung und Bioenergetik; von Gesprächs- und Gruppentherapien; von Yoga, Tai-Chi und Meditation; von politischem oder künstlerischem Engagement. Neben den individuellen Strategien stellt das Buch Projekte der organisierten Selbsthilfe und Modelle funktionierender professioneller Unterstützung vor. Ein weiterer grosser Abschnitt ist den «Strategien zur Durchsetzung von Alternativen und menschlicher Behandlung» gewidmet, worin Peter Rippmann über den Verein Psychex berichtet, den er als «pragmatisches Zentrum der antipsychiatrischen Bewegung der Schweiz» bezeichnet. Peter Lehmann war übrigens, keine grosse Überraschung bei seiner Umtriebigkeit, 1990 Psychex-Gründungsmitglied.
«Statt Psychiatrie 2» ist ein undogmatisches, menschenfreundliches Buch. Nach Signalen der Annäherung an die derzeit praktizierte Psychiatrie oder gar der Versöhnung sucht man allerdings vergeblich. Auf die Frage, was für ihn heute Antipsychiatrie bedeute, hat Lehmann denn auch gleich die schlagfertige und druckreife Antwort parat: «Widerspruchsgeist aus der Erkenntnis heraus, dass erstens die Psychiatrie als naturwissenschaftliche Disziplin dem Anspruch, psychische Probleme überwiegend sozialer Natur lösen zu können, nicht gerecht werden kann; dass zweitens ihre Gewaltbereitschaft und -anwendung eine Bedrohung darstellen und dass drittens ihre Methoden der Diagnostik den Blick auf die wirklichen Probleme des einzelnen Menschen verstellen.» Übrigens grenzt sich das Buch in der Einführung unmissverständlich ab von falschen Freunden, «von Scientology und anderen Sekten und Dogmatikern aller Couleur».
Immer wichtiger wird für Peter Lehmann die Arbeit an internationalen antipsychiatrischen Netzwerken. 1991 gehörte er zu den Mitbegründern des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen. Ebenfalls engagiert ist er beim 1993 gegründeten Weltverband. Von 1994 bis 2000 war er Vorstandsmitglied des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener. Seit 2004 gehört er dem Internationalen Netzwerk für Alternativen und Recovery an und vermittelt in dieser angelsächsischen Gründung insbesondere Kontakte Richtung Kontinentaleuropa, Afrika und Asien.
Weg mit den Zwangsmassnahmen
Von mehreren dieser Organisationen betreut er als Webmaster die Websites: «Abgesehen von Ländern wie China ist das Internet eine von Zensur und Macht freie Kommunikationsmöglichkeit - wie geschaffen dafür, das weltweite anti-psychiatrische Netzwerk zu verlinken.» Dank des Internets war dieses Netzwerk am letzten Kongress der World Psychiatric Association zur psychiatrischen Zwangsbehandlung Anfang Juni 2007 in Dresden mit einer Erklärung präsent, in der es das Ende aller psychiatrischen Zwangsmassnahmen und die Entwicklung von Alternativen zur Psychiatrie forderte. Gleichzeitig sass Lehmann mit im Organisationskomitee des Kongresses und handelte möglichst faire Bedingungen aus, unter denen PsychiatriekritikerInnen mit Vorträgen und einem eigenen Symposium am Kongress teilnehmen konnten.
Trotz aller Erfolge: Kann man gegen eine akademisch kanonisierte Lehre und die Interessen einer mächtigen Industrie ankämpfen? Ist dieser Kampf nicht hoffnungslos? Warum verbittert Peter Lehmann eigentlich nicht? «Selbstverständlich ist dieser Kampf nicht zu gewinnen», sagt er. «Aber immer wieder erhalte ich Schreiben von einzelnen Betroffenen aus aller Welt, die sich für meine Warnungen, Ratschläge und Informationen bedanken – dafür, dass ich ihnen gleichsam das Leben gerettet hätte.»
[1] Der «Verein für alle Fälle» wurde am 31.12.2012 aufgelöst.