Die Soldaten vom roten Thurm

 

Auf der Alp Niederbauen bei Emmetten sind die Höllenlöcher, zwei tief in den Berg hinein sich verlierende Schlünde, die bis in die Unterwelt hinabreichen sollen. Gar zu gerne hätte man gewusst, was die Untiefe berge. Darum wurde einem zum Tode Verurteilten der Vorschlag gemacht, wenn er hinabsteige und Bericht aus dieser Unterwelt bringe, sei er der Strafe ledig. Der Verurteilte wollte die Höllenfahrt wagen. An einem Seile glitt er hinunter in die Nacht. Nach Arth-Goldau, nun in der Süd-Ost-Bahn, heissen die Bahnstationen Steineregg und Sattel-Ägeri; schon um den Morgartenberg in die Hochebene einbiegend Biberegg, dann Rothenthurm. Am Bahnhof, flüchtig mit Filzschreiber auf ein Werbeplakat der «National Versicherung» gekritzelt: WAFFENPLATZ NIE. Hinter den Geleisen der freie Blick über Chilenmatt, Wassermatt und Grossblätz hinaus Richtung Aegeriried, vereinzelt Gesträuch und niedrige Scheuern im flachen Gelände. Zur Hauptstrasse hinauf entlang der mächtigen Kirche; jenseits der Strasse, über dunkelverwitterter Holzfassade, ein Leintuch, draufgepinselt: Uns werden soundsoviele Quadratmeter Land enteignet. Weiter drüben, mit Kegeldach und gerundeten Steinquadern, der rote Letziturm. Samstagmittag, Ende Juni, in Rudeln Velorennfahrer auf der Hauptstrasse. Zum Heuet hinaus fährt ab und zu ein Bauer mit Traktor und leerem Anhänger. Von rund einem Dutzend solcher Landwirtschaftsfahrzeuge und Traktoren sind letzten Monat die Fahrzeuge der Mitglieder der Eidgenössischen Schätzungskommission blockiert worden. Die Kommissionsmitglieder – sie führten für den Waffenplatz Rothenthurm die Enteignung durch ­– wollten mit den Anwälten der Gegenpartei die ausgesteckten Parzellen besichtigen und kontrollieren. Als sie die Gemeindekanzlei verliessen, waren ihre Wagen aufgehalten. Durch die Schwyzer Polizei wurden die Kommissionsmitglieder dann ins Gelände gefahren. Entlang der Hauptstrasse, die von Sattel her durch das Hochtal nach Biberbrugg führt, gehe ich im grelldunstigen Mittag durch die Erste Altmatt, die als kleines Strassendorf Rothenthurm Richtung Norden verlängert, nehme, fast am Ende der Häuserzeile, die Strasse, die links in die Ebene hinausführt und sich nach hundert Metern noch einmal teilt: Die eine quert das Tal auf kürzestem Weg hinüber zu einem gedrungenen Betonbau, der Abwasserreinigungsanlage Rothenthurm, die andere quert es diagonal, führt durch den südlichen Teil des Aegeririeds zum Weiler Steinstoss, der am Fuss des gegenüberliegenden bewaldeten Hangs, des Sulzeggwaldes liegt. Zu weiteren Zwischenfällen kam es bei dieser passiven Bauerndemonstration gegen den Waffenplatz Rothenthurm nicht. Auf Weisung der Eidgenössischen Schätzungskommission des Kreises 9 hat der Schwyzer Regierungsrat angeordnet, dass der Werk- und Enteignungsplan und das Verzeichnis der zu enteignenden Rechte im Enteignungsverfahren für den Waffenplatz Rothenthurm erneut während 30 Tagen öffentlich aufgelegt werden sollen. Die Planauflage in Rothenthurm beginnt am 27. Juni und endet am 26. Juli, und die Offiziersgesellschaft March-Höfe dankt in einer im Rahmen ihrer ordentlichen Generalversammlung einstimmig gefassten Resolution denjenigen Behörden, die vorbildlich ihre Pflicht im Sinn von Verfassung und Gesetz erfüllen und besonders dem Regierungsrat des Kantons Schwyz sowohl für seine Verhandlungsbereitschaft als auch für seine unmissverständliche Haltung. Ich nehme den Weg Richtung Steinstoss, durchquere den Grossblätz, in dem, auf den gemähten Parzellen, die Leute mit Gabeln das Heu wenden, und betrete nun, Falzbrunnen und Allmigfören erreichend, wo die Matten wegen der zunehmenden Trittempfindlichkeit kaum mehr gemäht werden können, jenes Gebiet, das zum Aufklärungsgelände des geplanten Waffenplatzes gehört, etwa an jenem Punkt, an dem, links von der Strasse Richtung Nesseliwald ein Maschinengewehrstellungsraum vorgesehen ist. In diesem Gebiet wird noch vereinzelt geturpnet. Mannshoch laufen die schwarzbraunen Torfwälle entlang den tiefen, am Grund mit schwarzstehendem Wasser gefüllten Gräben. Tief hinunter glitt er an dem Seile, bis endlich ein grosses Feld vor ihm lag. Lange durchwanderte er die Aue, ohne Wohnung und Nahrung zu finden, also, dass er seine Schuhe völlig aufass bis auf die Sohlen. Endlich erspähte er ein Haus und betrat es. Schau! – Die Biber! Hier auf der Bubrugg stehend, überblickst du die Mäander, die Windungen und Schleifen, mit denen sich der gemächlich fliessende Bach seinen Weg mitten durchs Aegeriried sucht. Darüber siehst du den lockeren Torfmoos-Bergföhrenwald, die Baumgruppen, die einzelnen Bäume, Moorbirken und Fichten, Faulbäume und Vogelbeerbäume. Der Torfmoos-Bergföhrenwald bedeckte früher wahrscheinlich grosse Teile des Hochmoors. Der verbliebene Rest und einige heute baumfreie Hochmoorabschnitte des Aegeririeds sind seit 1952 Eigentum des Schweizerischen Bundes für Naturschutz, und die Einsiedler Theatergruppe «Fürs Chärnehus» spielt seit Samstag, 18. Juni, mitten in Einsiedeln –  also hinter dem Hügelzug des Chatzenstrick, des sich rechterhand über der Zweiten und Dritten Altmatt erhebt – auf dem alten Benzigerareal (das als Standort für eine Migros-Überbauung im Gespräch ist) «Urwang», eine «ernste und zeitgemässe Geschichte» nach dem gleichnamigen Roman des «bekannten Schwyzer Dichters Meinrad Inglin». Sie handelt vom «Urwangtal», das zur Elektrizitätsgewinnung von einem Stausee überdeckt werden soll. Inglin erzählt den dramatischen Verfall des Dorfes und der fünf dort wohnenden Bauernfamilien. Der Widerstreit zwischen dem Recht der Allgemeinheit, zugunsten grosser Werke Enteignungen vorzunehmen, und den einzelnen Betroffenen, sei zweifellos auch heute aktuell, obschon das Spiel in Einsiedeln in den fünfziger Jahren situiert sei. Bei der Häusergruppe Steinstoss nehme ich den Weg, der entlang von kleinen Äckern, von Pfeifengras- und Goldhaferwiesen zum Rossboden führt, einem weiter südlich liegenden Weiler, an den das Zielgelände des geplanten Waffenplatzes anschliesst. An einem Schopf hängt hier ein Leintuch mit der Aufschrift: Uns werden soundsoviele Quadratmeter Land enteignet. Rothenthurm liegt jetzt jenseits des Tals weiter südlich, dahinter erheben sich, in gewittrigem Dunst, die beiden Mythen über bewaldete Hügelzüge. – Schau! An einem Tische sassen drei schlafende Männer. Einer von ihnen hob das Haupt empor und fragte den Ankömmling: «Welche Zeit zählt man jetzt?» Dieser sagte es ihm. Hierauf führte der Unterirdische den Verurteilten an ein Fenster und sprach: «Siehst du dort jene Leute?» Dieser bejahte. Er sah eine grosse Schar Soldaten, die alle auf dem Boden lagen. Sie trugen Unterwaldner Landestracht und Farbe. Vom Rossboden die befestigte Strasse durch das Zielgelände zum Hof Tännli emporsteigend, bemerke ich unschwer die mit Kopf-, Brust- und Figurenfallscheiben, mit sanft sich im Winde wiegenden Luftballons auszustattenden, durch Rinnen und Baumgruppen in der Fallinie coupierten Geländekammern. Als erste Kammer hat der Ständerat vor ein paar Tagen dem ungeschmälerten Kredit von 108 Millionen Franken für den Waffenplatz Rothenthurm zugestimmt. Vom Tännli führt ein Fussweg fast ebenwegs hinüber zum Nesseli. Ein Antrag von sozialdemokratischer Seite, den Teilkredit für das umstrittene Aufklärungsgelände bis zur definitiven Abklärung bzw. Regelung aller offenen Fragen zurückzustellen, wurde mit 30:11 Stimmen abgelehnt. Von hier oben, mitten im Zielhang, hat man die beste Übersicht über das ganze Gebiet. Plötzlich das hysterische Leutnantsgeschrei aus dem Moor: «Achtung, über dem Nesseliwald sind feindliche Luftlandetruppen zu erkennen!» Die Zustimmung des Ständerats wurde nach längerer Debatte immerhin mit gewissen naturschützerischen Zugeständnissen verknüpft. «Die Feinde landen am Hang drüben. Zwanzig, fünfundzwanzig! Feuer frei auf auftauchenden Feind! Gruppe links, Ziel meine Leuchtspur!» Und an verschiedene weitere Auflagen gebunden, mit denen sich im Namen der Landesregierung auch Bundesrat Georges-André Chevallaz einverstanden erklären konnte. Direkt vor mir fetzt eine Leuchtspursalve in den Hang, Erde spritzt auf, Grasbüschel fliegen, Querschläger pfeifen, der Leutnant brüllt, die Fallscheiben fallen, die Ballons platzen mit trockenem Knall. Drüben auf dem Nesseli schlägt der Hund an, am Schuppen auf einem Band zusammengenähter Leintücher steht: MEINE HEIMAT WIRD ENTEIGNET. Der Bauer Adolf Besmer, der hier wohnt und seit Jahren gegen das Eidgenössische Militärdepartement für sein Nesseli kämpft, ist nicht zu sehen. Er wird in der Ebene drunten beim Heuen sein. Vom Morgartenberg bis hinüber zum Nüsellstock steht jetzt die Wolkenwand, die Mythen sind im Dunst verschwunden. Quer über den Hang steige ich auf einem kleinen Fusspfad ins Tal, quere die Möslibrugg, erreiche die Abwasserreinigungsanlage Rothenthurm und biege wieder in die Wassermatt ein. Das Heu ist trocken, über den Hügeln rollt der Donner. Die Ebene ist nun bis hinüber nach Rothenthurm voll angestrengt arbeitender Leute. Sie liegen alle auf dem Boden und tragen Unterwaldner Landestracht und Farbe. Jetzt richtet der Unterirdische eine verhängnisvolle Frage an denjenigen der Oberwelt. Sie lautet: «Kennst du welche von diesen Kriegern?» ­ «Nein», war die Antwort, worauf entgegnet ward: «So werden wir hier zu verbleiben haben bis 1800 und nu meh, nu meh! Alsdann werden wir zuerst beim roten Thurm sichtbar werden, mit dem Feinde kämpfen und ihn drängen bis Emmenfeld bei Luzern, von da gegen den Hauenstein bis auf Sankt Jakobsplatz. Und hiermit werden wir die Freiheit bringen.» Mitten in der Wassermatt steht rechterhand das Haus mit dem ausgebauten Schweinestall, in dem sich jetzt Militär-Theoriesäle befinden. Eine Anwohnerin hat am Donnerstagmorgen, 23. Juni, um zirka 01.30 Uhr, der Feuerwehr gemeldet, dass es in der Wassermatte brenne. Der sofort ausrückenden Feuerwehr gelang es, den Brand rasch unter Kontrolle zu bringen. Die Ermittlungen der Kantonspolizei ergaben, dass ein oder mehrere Brandstifter vor einer Türe des militäreigenen Gebäudes Stroh und Holz aufgeschichtet und dieses angezündet hatten. Das Feuer griff rasch aufs Dach über, konnte dann aber eingedämmt werden. In einem Theoriesaal in der Wassermatte sind seit dem 27. Juni erneut die Pläne für das Enteignungsverfahren im Fall Waffenplatz Rothenthurm aufgelegt. Dieses Verfahren soll am kommenden Montag wieder beginnen. Das Motiv für die Brandstiftung dürfte mit Sicherheit mit dem geplanten Waffenplatz in Zusammenhang stehen. Die Ermittlungen sind im Gang. Das Dorf erreichend, komme ich wieder am roten Thurm vorbei. Dahinter, über einem steilen Bord, tritt der nackte Fels an die Oberfläche. Zwei niedrige Höhlenausgänge sind zu erkennen. Bereits haben sich die Arbeitsgemeinschaft gegen den Waffenplatz Rothenthurm und das Initiativkomitee der Rothenthurm-Volksinitiative von dieser Brandstiftung distanziert. Vielleicht enden die beiden Höllenlöcher der Alp Niederbauen bei Emmetten hier hinter dem roten Thurm. Aufs entschiedenste halten sie fest, dass sie sich klar von Anschlägen distanzieren. Die Auseinandersetzung habe absolut gewaltfrei zu bleiben. Aus diesen beiden niedrigen Höhlen wird die grosse Schar der Soldaten in Unterwaldner Tracht und Farbe herausströmen, mit dem Feinde kämpfen und ihn drängen bis auf Sankt Jakobsplatz und, hiermit die Freiheit bringen. Aber wann? Und wem?

In die Reportage eingearbeitet ist die Sage «Die drei schlafenden Befreier» (in: Franz Niderberger: Sagen und Bräuche aus Unterwalden», edition olms 1978). – Die Reportage entstand einige Wochen, bevor am 16. September 1983 die nationale «Rothenthurm-Initiative» eingereicht wurde, die zum Ziel hatte, Moore und Moorlandschaften von nationaler Bedeutung zu schützen. Obschon sie das Parlament dem Volk und Ablehnung empfahl, wurde die Initiative am 6. Dezember 1987 in der Volksabstimmung mit 57,8 Prozent der Stimmen angenommen. Damit war der Waffenplatz westlich des Bahngeleises verhindert. Weiterhin als Infanterie-Schiessplatz verwendet wird in Rothenthurm östlich von Bahnlinie und zweiter Altmatt die Geländekammer des Cholmattli. (16.12.1994) [In einem Bericht über den erwähnten Bauer Adolf Besmer war am 5.12.2007 auf «swissinfo» zu lesen: «David hatte gegen Goliath einen Sieg errungen. Bauer Besmer konnte endlich wieder an die Zukunft denken – jetzt, wo das Moor endgültig geschützt ist. Seit 1999 produziert Besmer nach biologischen Richtlinien. Derzeit baut er einen neuen Stall für seine 45 Stück Vieh.»]

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 249-254. (Dokumentiert wird die Buchversion.)

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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