Die Schweiz braucht eine Irren-Offensive

Gewidmet ist diese Wiederveröffentlichung Tina Stöckle.

«Ich frage mich, wer soll den Kampf führen? Die Psychiater selbst? Die kann man vergessen, die geben ihre Privilegien nicht ab. Wer aber dann?» (H. U. Müller)

8. Januar 1989: Diskussionsrunde zur Frage: «Wer braucht die Psychiatrie?» im «Klopfzeichen», der Sendung «für alle Eingeschlossenen, Ausgeschlossenen und Weggesperrten» von Radio LoRa, Zürich. Anwesend sind Berthold Rothschild, praktischer Psychiater und Psychotherapeut; Urs Ruckstuhl, Psychologe, Publizist und Mitarbeiter der Pro Mente Sana (PMS); Marc Rufer, heute psychoanalytisch tätiger Psychiater; dann die Psychiatriebetroffenen Therese Krummenacher, Mariella Mehr und H. U. Müller, dazu Peter Lehmann und Tina Stöckle von der Irren-Offensive Berlin.

Schnell zeigt sich, dass die Positionen der Fachleute und jene der Betroffenen – manchmal aufbrechend im Fundi-Realo-Widerspruch, manchmal schillernd in 68er-80er-Gegensätzlichkeiten – in vielem unvereinbar sind. Ein Schlaglicht auf die Gesprächssituation wirft der Wortwechsel zwischen Rothschild und Lehmann zum Verhältnis von Vernunft und Psychiatrie:

Rothschild: Man müsste einmal schauen: Was passiert eigentlich mit der Ausgrenzung der Unvernunft, noch bevor sie auf die Psychiatrie trifft? Man kann nicht alles der Psychiatrie anlasten, sondern man muss den normativen Charakter der Gesellschaft mit einbeziehen.

Lehmann: Meinen Sie denn, dass die Psychiatrie auf der Seite der Vernunft steht?

Rothschild: Der Begriff der Vernunft wird sowohl von der Psychiatrie als auch ausserhalb der Psychiatrie vom durchschnittlichen Wohlverhalten monopolisiert. Wenn ich «Unvernunft» sage, so rede ich von dem, was als «Unvernunft» bezeichnet wird. Wenn sich ein Künstler oder ein Playboy unvernünftig verhält, braucht es länger, bis das als unvernünftig bezeichnet wird, als wenn das einer ist aus der Durchschnittsbevölkerung.

Lehmann: Möglicherweise gilt das auch für Psychiater und die Psychiatrie, dass es lange dauert, bis sie merken, dass sie die Unvernunft vertreten.

Rothschild: Ich will nicht bestreiten, dass die Psychiatrie eine Unvernunft vertritt. Ich sage nur, sie ist nicht ausschliesslich damit beschäftigt, die Unvernunft zu vertreten.

Das Unmögliche fordern oder das Mögliche tun?

Wie ist zum Beispiel der Begriff «Psychiatrie» zu fassen? Müller: «Ich gehe nach eigenem Erleben und intensivem Nachdenken davon aus, dass die real existierende Psychiatrie mir nicht nur nicht helfen kann, sondern mich vernichten könnte.» Für Lehmann ist die Psychiatrie «ein Machtmittel, das ein normatives Menschenbild schafft» und die «Abtötung von Lebensvielfalt» bezweckt. Stöckle setzt «Psychiatrie» mit «Sklaverei» gleich. Es könne keine «bessere Psychiatrie» geben, «wie es keine bessere Sklaverei gibt. Es gibt die Sklaverei, oder es gibt sie nicht.» Gegen diese «primitiven Schablonen» versucht Rothschild zu differenzieren: «Wir müssen ein Mittelfeld von dem, was passiert, auch anschauen. Wenn wir uns nur auf Einzelschicksale, auf anekdotische Katastrophen festlegen und nicht die generelle Psychiatrie sehen, wo sie mit dem Konsens der Betroffenen passiert, dann geraten wir in ein Horrorkabinett, und jeder von uns weiss Beispiele zu erzählen.» Für Müller jedoch gibt es kein «Mittelfeld», für ihn ist die Psychiatrie «eine Art Klassenkampf, der Menschen zweiter und dritter Klasse erzeugt, betrieben durch leitende Psychiater und Wissenschaftler und in Gang gehalten durch Psychopharmaka.»

Analog sind Begriffe wie «Krankheit» und «Diagnose» umstritten. Rothschild: «Ich bin der Meinung, dass es psychische Krankheiten gibt. Ich begegne Leuten, die sich über psychische Störungen beklagen und sich verändert fühlen gegenüber anderen Zeiten; wobei ich nur dann von Störungen rede, wenn sie von den Betroffenen her definiert werden.» Dagegen Mehr: «Ich meine, dass die Begriffe ‘Psychiatrie’ und ‘psychisch krank’ nicht von einer anonymen Gesellschaft geschaffen worden sind und verwaltet werden, sondern von Menschen, die sich als Psychiater bezeichnen. Nur sie wissen, was psychisch krank ist. Deshalb muss man die Psychiatrie angreifen.» Und Lehmann: «Das erste, worauf wir verzichten müssen und auch sehr gut können, das sind die Psychiater, weil die Vorstellung, dass soziale und emotionale Probleme medizinischer Natur sind, etwas ganz Perverses ist.» Die «Diagnose» bezeichnet Lehmann, der als Betroffener vierzehn verschiedene psychiatrische Diagnosen auf sich vereinigt, als «Geschwätz von Psychiatern, das sie mir in der Anstalt eingeredet haben». Begriffe wie «Psychose» und «Schizophrenie» bedeuteten nur, dass die Psychiater unfähig seien, die Betroffenen zu verstehen respektive sich in ihre Lebensäusserungen einzufühlen. Und Rufer: «Wenn es jemandem ein bisschen schlechter geht, ist das Wissen überall im Raum, dass es Diagnosen gibt. Dieses Wissen hat sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Angehörigen Folgen, erst recht, wenn dann ein Experte kommt und die Sache bestätigt. Eine Diagnose ‘Schizophrenie’ kann niemand vergessen, das ganze Leben lang.»

Während die Fachleute unter ständigem Legitimierungsdruck argumentierten, forderten die Psychiatrie-Überlebenden bedingungslos die Abschaffung zumindest der institutionellen Psychiatrie. Hier wies Ruckstuhl allerdings auf die riesige Spannung zwischen der Denunzierung der Missstände und der Utopie hin: «Abschaffung der Psychiatrie hiesse für mich Abschaffung der ganzen extremen Spezialisierung in dieser Gesellschaft, hiesse auch Abschaffung der Gefängnisse und so weiter. Dies können wir zwar wünschen und dann friedlich nach Hause gehen. Aber wie können wir die minimalsten Ansätze schaffen zum Widerstand? Die Fähigkeit, den Widerstand zu verbreitern – da seh ich leider uns alle sehr ratlos.»

PMS und Psychex

Ruckstuhl selber ist den Weg in die widersprüchliche Praxis vor einem Jahr gegangen, als er eine Stelle bei der Stiftung Pro Mente Sana annahm, obschon er diese selber als «reformistische Organisation» bezeichnet. Er plädiert für den Gang in die Institutionen: «Was ich in diesem Jahr, in dem ich bei der PMS bin, ausgelöst habe an Diskussionen, an Veränderungen, an Stimulanz, ist viel mehr, als was ich vorher als alleiniger Kämpfer von aussen erreicht habe.» Die mittlerweile zehnjährige PMS, in deren Stiftungsrat klinikpsychiatrische Grössen wie Wolfgang Böker (Direktor der Waldau Bern) oder Felix Labhardt (stellvertretender Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik Basel) sitzen, beschäftigt sich mit psychosozialen Kurzberatungen, juristischen Beratungen (Vormundschaftsrecht, Zwangspsychiatrisierung), Interessenwahrung der PsychiatriepatientInnen (zum Beispiel im Bereich der Invalidenrente) und mit Projekten im Wohn- und Arbeitsbereich. dazu kommt die Öffentlichkeitsarbeit, vor allem die Publikation der Zeitschrift «PMS aktuell», die im letzten Jahr unter anderem spannende und materialreiche Dossiers zu Rassismus in der Psychiatrie, Psychopharmaka und Akteneinsicht gebracht hat.

Der letztes Jahr gegründete Verein Psychex geht davon aus, dass die Rechtsvertretung von PsychiatriepatientInnen in der Schweiz miserabel ist: «Regelmässig kämpfen sie allein auf weiter Flur gegen die Einschliessung und die Zwangsmedikation.» Nach Angaben des Psychex-Initianten, des Zürcher Rechtsanwalts Edmund Schönenberger, sind zur Zeit gegen zwanzig Dreier-Teams – bestehend aus je einer Fachperson aus den Bereichen Medizin, Jurisprudenz und soziale Fragen – im Einsatz, die versuchen, je ein Psychiatrieopfer aus einer Klinik herauszuholen und sein Leben draussen zu organisieren. Schönenberger hat Psychex initiiert, weil es bei den wenigen auf diese Fragen spezialisierten Anwälten eine enorme Nachfrage von PatientInnen gebe, die ihre Ansprüche auf Freiheit, Rehabilitation und Schadenersatz durchsetzen möchten. Schönenberger: «Zu kippen ist das System der psychiatrischen Gewalt nicht. Möglich ist aber, im Einzelfall die Erfahrung des erfolgreichen Widerstands zu vermitteln. Die Zahl der Psychiatrieopfer wächst. Die Hochzeit des Widerstands gegen die Psychiatrie steht erst noch bevor.»

Irren-Offensive Berlin

Als sich im Mai 1980 in Berlin anlässlich eines «Gesundheitstages» die Patienten-Selbsthilfegruppe – die spätere Irren-Offensive – zusammenfand, wehrten sich die Betroffenen als erstes gegen die interessierten Nicht-Betroffenen – aus den Bereichen Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit, Universitäten und so weiter –, die in der Selbsthilfegruppe mitmachen wollten. Ein Betroffener: «Ich hatte mich stark dagegen gewehrt, dass Nicht-Betroffene in die Gruppe reinkommen aus folgenden Gründen: Ich hatte gemerkt, wie bei diesen Treffen die Leute eingeschüchtert waren, kaum sprachen, die Studenten aber mehr von ihren Problemen erzählten als die Betroffenen. Deshalb dachte ich, wir könnten schneller Probleme besprechen und angehen, wenn wir unter uns sind, eben unter Leuten, die die gleiche Geschichte und die gleiche Problematik erlebt haben.»

In ihren Diskussionen haben die Leute der Irren-Offensive folgende Punkte als für ihre Praxis zentral erkannt: Zusammenschluss der Betroffenen, gemeinsames Aufbrechen der Isolation, Widerstand leisten, offensiv werden; Kampf gegen die Psychiatrie und für  die Menschenrechte; kollektive Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen; Selbstorganisation und Selbsthilfe; Befreiung von psychischem Einfluss; Suche nach dem Sinn des Wahnsinns; Autonomie und persönliche Entfaltung; kritische Auseinandersetzung mit den «Experten»; Abbau jeglicher Machtverhältnisse innerhalb der Gruppe und Widerstand gegen Fremdkontrolle.

Zur Zeit arbeitet die Irren-Offensive am «Projekt Weglaufhaus». Wie Frauenhäuser vor der Gewalt von Männern schützen, soll das Weglaufhaus schützen vor der Gewalt der Psychiatrie. Aufnahme finden sollen Menschen, die aus Anstalten entwichen sind, die «aus AbspritzWGs (auch ‘therapeutische Wohngemeinschaften’ genannt) raus wollen», die sonst weiter in Anstalten bleiben müssten, weil sie keinen Wohnraum haben, oder die akut von der Einweisung bedroht sind. Peter Lehmann: «Wir möchten, dass Menschen ‘ne Zufluchtsstätte haben, wo ’ne Hilfe da ist, dass sie ihre bürgerlichen Rechte wieder kriegen, wo Ruhe ist, dass sie überhaupt mal wieder zum Nachdenken kommen darüber, was sie wollen. Diese Möglichkeit sollen sie haben ohne erneuten Zugriff der Psychiatrie. (Unter Verwendung von Tina Stöckle: Die Irren-Offensive – Erfahrungen einer Selbsthilfeorganisation von Psychiatrieopfern, Frankfurt am Main [Extrabuch-Verlag] 1983).

Aufstehen aus dem Nichts

Daran, dass es in der Schweiz auch schon radikale Ansätze der Selbstorganisation von Psychiatriebetroffenen gegeben hat, erinnerte Mariella Mehr in der LoRa-Diskussion: «Ich erinnere mich an die 68er Unruhen in Zürich, als Leute aus Heimen und Erziehungsanstalten rausgekommen sind. Da gab es eine, wenn auch kleine und in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannte Bewegung der Psychiatriepatienten und -patientinnen, die teilweise über die Mauern abgehauen sind. Die haben sich dann in Zürich in ersten Wohngemeinschaften zu organisieren und ohne Medikamente zu leben versucht. Interessant wäre die Frage, weshalb es in der Schweiz zwar solch radikale Bewegungen gab, aber diese wichtigen Ansätze wieder eingeschlafen sind.»

11. Januar 1989: Zusammen mit Peter Lehmann und Tina Stöckle veranstalten die «Klopfzeichen»-Leute einen Video- und Diskussionsabend über die Irren-Offensive. Weit über hundert Leute kommen ins Gemeinschaftszentrum Heuried in Zürich. Die Diskussion zeigt schnell, dass viele radikal psychiatriekritische Betroffene im Raum sitzen, dass das Interesse an einer Betroffenen-Selbsthilfegruppe vorhanden, aber gleichzeitig die Skepsis, dass so etwas klappen könnte, beträchtlich ist. Ein Betroffener: «Es gibt sehr viele verstreute Leute, die Erfahrung haben und etwas machen möchten. Aber wie erheben sich die Leute aus dem Nichts und stehen dazu: ‘Ich war in der Klapsmühle?’ Wie schaffen wir diesen Freiraum?» Vereinbart worden ist, dass sich die interessierten Psychiatrie-Überlebenden am 17. Januar in den Räumen des LoRa ein erstes Mal treffen wollten.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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