Oskar wirft eine Handvoll Salz in den grossen Topf, kippt einen Schwall Öl hinterher, Seedy rührt die Teigwaren um. Es ist 11 Uhr 04. Bobo zählt Pouletoberschenkel in einem rechteckigen Edelstahlgefäss, fragt: «Bitzius?» Oskar wirft einen Blick auf den Plan an der Wand: «Bitzius 38» und fügt hinzu: «Muesmatt eleven». Der Plan trägt den Titel: «Total Menus für alle Schulen ab 5. September 2006.» 11 Uhr 11. Bobo drückt den blanken Deckel auf das Gefäss, schiebt es in eine der grossen, gelben Transportkisten. «Let’s go, Matte!», ruft Oskar. «Teigwaren hier! Sauce? Dort hinten. Seddy, das Wasser kocht. Noch five minutes.» Bobo schöpft Spinat in Gefässe, umkurvt die beiden Köche, füllt die gelben Kisten, zählt, zählt nach, ruft: «Vegi für Bitzius?» Seedy wirft eine handvoll getrockneten Rosmarin über das nächste Gefäss voller Pouletstücke. Oskar: «All finished?» Auf einen Schlag weicht der Stress. Es ist 11 Uhr 19 und der rote Sekundenzeiger hüpft auf fünf über halb: Heute ist man 25 Sekunden zu früh fertig. Vor dem breiten Küchenfenster rumpelt ein Tram stadtauswärts, laut, als wäre es der erste heute.
Das Gastroprojekt im Murifeldtreff beliefert die Schulhäuser Bitzius, Matte, Kleine Allmend, Muesmatt sowie die Montessori-Schule am Montag, Dienstag und Donnerstag mit mehr als hundert Menus, am Mittwoch und Freitag sind’s weniger. Dazu braucht es bis zu vierzig Mittagessen für den Träff selber. Hier arbeiten sechs Migranten und Migrantinnen in Küche, Service und Menuauslieferung an die Schulen. «Gastroprojekt» heisst: ein Jahr lang «learning on the job», dazu spezifische Weiterbildung in der Küche, Deutschkurse und einmonatige Praktika in Restaurants.
Fest angestellt sind bloss der Küchenchef Oskar, der ein halbes Jahr vor der Pensionierung steht, und Seedy. Während das Küchenteam jetzt, um halb zwölf, vor dem Eintreffen der Gäste, im Beizenraum des Treffs beim Mittagessen sitzt, gibt Seedy Auskunft: Gestern ging für ihn der Ramadan zu Ende, er muss seinen Magen erst wieder daran gewöhnen, mittags zu essen. Er hat in Gambia eine Hotelfachschule besucht, dann im 4-Stern-Hotel Sunbeach in Bakau gearbeitet, später als Hilfskoch in Mailand, 2000 kam er in die Schweiz, wurde Koch im Treffpunkt Untermatt, und jetzt ist er hier Sous-Chef, ab nächsten Sommer ersetzt er Oskar als Küchenchef. Daneben betreibt er seinen Partyservice Happy Lion. Er ist mit einer Bernerin verheiratet und Vater eines fünfjährigen Buben. Was ihn an der Arbeit hier fasziniert, ist die Internationalität des Projekts. Im Moment kommen seine Kolleginnen und Kollegen des Küchenteams aus Bosnien, der Dominikanischen Republik, aus Guinea, Nigeria, Österreich, Tunesien und der Türkei. An Sprachen braucht er hier deutsch und englisch und von Fall zu Fall eine der sechs afrikanischen Sprachen, die er spricht, vor allem Mandinka und Fula.
Von der Besetzung zur Kooperation
Unterdessen sind Gäste eingetroffen, Ali und Cathrin servieren. An einem der Tische sitzen Stefan Wyss und Dominique Blum und beginnen zu erzählen. Wer heute Murifeld höre, denke möglicherweise zuerst an den SIA-Preis für nachhaltiges Bauen, den die Bauherrin Stadt Bern für Renovationskonzept und -ausführung in der «Siedlung Oberes Murifeld» 1999 bekommen habe.
Einer wie Wyss, der sich hier zwanzig Jahre lang engagiert hat, kann sich eines müden Lächelns nicht enthalten, denn es war so: Im Frühjahr 1986 plante die damalige bürgerliche Stadtregierung die «uniforme Sanierung» des Quartiers in einer Art, die so teuer gekommen wäre, dass der grösste Teil der Bewohnerinnen und Bewohner vertrieben worden wäre.
Der Protest gegen diesen Plan begann mit einer Flugblattaktion. Der Aufruf zündete. Es war die Zeit der Hüttendorfsiedlung auf dem Gaswerkareal und dem Tandem Bircher-Albisetti an der Spitze der Stadtregierung. Anlässlich einer Bürobesetzung, an der ZaffarayanerInnen dem städtischen Liegenschaftsverwalter Werner Frehner erklärten, welche Politik hier und heute nötig sei, waren auch Leute aus dem Murifeld dabei. Als – ein erster schüchterner Renovationsversuch – moderne Türen mit Guckloch und Spion im Murifeld eintrafen, um anderntags montiert zu werden, fand Frehner die ganze Türenlieferung am anderen Morgen vor seiner Terrassenwohnung in Worb. Als später ein Treffen mit Behördenmitgliedern stattfand, legten die geplagten Beamten die Sitzordnung so fest, dass sie eine Türe als Fluchtweg im Rücken hatten. Aber sie begannen zuzuhören – vor allem nachdem eine Motion des Stadtrats Ueli Gruner (Junges Bern) überwiesen worden war, die eine ökologisch verträgliche Minimalsanierung der Strassenzüge und ein Mitplanungsrecht der Mieterschaft forderte.
Unterdessen steht die Sanierung der Häuser innerhalb des Strassengevierts Gruberstrasse, Jolimontstrasse, Kasthoferstrasse, Mindstrasse und Muristrasse vor dem Abschluss. Heute wohnen in der «Siedlung Oberes Murifeld» in 269 Wohnungen über tausend Personen und viele von ihnen haben seit den frühen neunziger Jahren mitgeredet bei der Renovation ihrer Wohnung und mittels Delegierten mitbestimmt, was die «Arbeitsgruppe Gesamtsiedlung» zu erarbeiten und die «Baukommission» auszuführen hatte.
Im August 2003 ist nun ein «Kooperationsmodell» in Kraft gesetzt worden, das die weitere Zusammenarbeit des Quartiers mit der Liegenschaftsverwaltung regelt: Im Zweijahresturnus wählt die Mieterschaftsversammlung sechs Delegierte, die gegenüber der Stadt die Mitsprache in den Bereichen «Vermietung von Wohnraum und bei der Förderung des einvernehmlichen Zusammenlebens», «Pflege und Unterhalt des Aussenraums» und bei «künftigen Veränderungsabsichten» von Seiten der einen oder anderen Partei wahrnehmen. Dank des «Mieterfrankenmodells» kann diesen Delegierten ein Sitzungsgeld bezahlt werden: Von jeder Wohnungsmiete gehen monatlich 5 Franken auf das Mieterfrankenkonto, ein Franken davon geht an die Delegierten, vier werden benötigt als Anteil an die Miete des Quartiertreffs (die von der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit vbg zu rund 70 Prozent getragen wird).
Das Poulet-Menu war ausgezeichnet. Bevor sich Stefan, der letzthin aus privaten Gründen aus dem Quartier weggezogen ist, verabschiedet, sagt er: «Die Siedlung, so wie sie sich heute präsentiert, ist das Resultat eines kontinuierlichen und unnachgiebigen Engagements der Leute hier für ihren Wohnraum – auch wenn dann schliesslich andere einen Preis bekommen haben.» Allerdings, fügt er bei, habe auch die Liegenschaftsverwaltung ihren Teil beigetragen: «Sie nimmt heute die Kooperation ernst und praktiziert eine konstruktive Zusammenarbeit mit uns hier im Murifeld.»
Knochenarbeit und «Bazore»
Dominique, die mit Stefan zusammen erzählt hat, wechselt an den Nebentisch. Dort leitet sie die «Arbeitsgruppe Quartiertreff», an der heute Sue, Bekira, Stefanie und Fränzi teilnehmen. Es geht, laut Traktandenliste, um «Treffnutzung, Stand der Dinge + Vorschläge». Themen sind das Quartierznacht, die Kulturgruppe, die Spielgruppe und der Belegungsplan für die Sonntagsbeiz. Und was passiert an Weihnachten, was an Silvester und Neujahr? Wo und an welchen Sitzungen wird weiterdiskutiert, -geplant, -entschieden? Knochenarbeit: Die fünf Frauen am Tisch blättern in ihren Papieren und Agenden; Ideen, Vorbehalte, Terminvorschläge gehen hin und her. Und schliesslich ist eine der schönen Kübelpflanzen vor dem Treff obdachlos geworden, weil der, der sie im letzten Winter eingekellert hat, weggezogen ist. Wer schaut? Als Dominique die Sitzung schliesst, ist sie zufrieden: Alles besprochen und kaum fünf Minuten überzogen an der ersten Sitzung, die sie geleitet hat. Das können andere nach Jahren nicht. Heute Abend wird sie noch bis weit in die Nacht für das Quartier weiterarbeiten – an der Sitzung des Vorstands vom Murifeldtreff.
Beim Kaffee sitzt nebenan nun Elena und erzählt vom Projekt «Bazore», das sie zusammen mit Luigi lanciert hat. Bazore ist entstanden aus den Wörtern «Bazar» und «ore» und bezeichnet das Zeittauschprojekt, das am diesjährigen Murifeld-Fest Ende August lanciert worden ist. Bazore will eine kleine Welt ohne Geld aufbauen, eine Welt, an der auch Migranten, Migrantinnen und die Ausgegrenzten der Gesellschaft teilhaben können. «Jeder Mensch hat Talente und Fähigkeiten», sagt Elena. Diese Ressourcen sollen aufgewertet werden, aber nicht mit Geld, sondern mit Zeit. Getauscht wird Zeit gegen Zeit, wobei alle Zeiteinheiten gleichviel zählen, egal, was man tut.
Auf einem Flugblatt heisst es: «Bei Bazore befähigen sich die Menschen gegenseitig mit ihren Kenntnissen. Dabei treten unterschiedliche Generationen und Kulturen miteinander in Kontakt. Durch diese Begegnungen kann mehr Toleranz gegenüber anderen Menschen entstehen, Vorurteile (rassistische, sexistische und religiöse) können abgebaut werden.» Der Bazore-Start ist über Erwarten gut geglückt. In der ersten Bazore-Zeitung sind um die hundert Angebote und Nachfragen aufgeführt. Von Flyer verteilen über kreativ kochen bis zu Montage- und Haushaltsarbeiten oder Sprach- und Musikunterricht wird alles gesucht und angeboten. Nach einer Anlaufzeit, wünscht sich Elena, soll das Projekt ohne professionelle Animation verwaltet werden: Wer das Projekt administriert, soll für seine Arbeitszeit andere Arbeitsleistungen beziehen können. Und selbstverständlich soll Bazore übers Quartier und – wer weiss – über die Stadt hinaus wachsen.
Lets go Bobo
Nach 15 Uhr ist nur noch ein Tisch besetzt: Teamsitzung des Gastroprojekts mit Emmanuel, Bobo, Uchenna, Seedy, Ali, Cathrin und Stefanie, der Gemeinwesenarbeiterin der Quartierarbeit Bern Ost. Geleitet wird die Sitzung von Sue, der Koordinatorin des Gastroprojekts. Mitgeteilt wird, dass Oskar und Seedy die Stellenprozente getauscht haben: Seedy stockt auf, Oskar beginnt sich zurückzuziehen. Danach gibt zu reden, dass Ada aus dem Projekt aussteigt: Als alleinerziehende Mutter mit drei Kindern und mit gesundheitlichen Problemen schafft sie ihr Pensum hier einfach nicht. Seedy schlägt als Ersatz Karim vor, ein gut ausgebildeter Mann, der sich im Gastroprojekt bereits bewährt hat. Stefanie seufzt. Wie soll man dem initiativen Gambier, der sich schon jetzt als Küchenchef verantwortlich fühlt, erklären, dass Karim nach seinem Projektjahr als bereits älterer Migrant zuerst wieder zwei ziemlich chancenlose Jahre auf dem RAV absitzen muss, bevor er wieder im Gastroprojekt mitmachen darf?
Nach 16 Uhr sind nur noch Sue Niederhäuser und Stefanie Ulrich, die beiden vbg-Angestellten im Murifeldtreff. An solch hektischen Tagen bleibt jeweils einiges unerledigt, Telefonate, Mails, Papierkram. Vor dem Küchenfenster jetzt herbstliches Nachmittagslicht. Die Küche ist blitzblank und sehr still. Bis morgen Vormittag, wenn Oskar mit Öl und Salz in den Händen wieder rufen wird: «Let’s go, Bobo, Matte 17!»