Wie kann Fiktion realistisch sein?

[Anrede/Begrüssung]

Von Beat Sterchi sind mir bis heute drei Buchpublikationen bekannt: eine, die alle kennen; eine, die kaum jemand kennt und eine dritte, deretwegen wir hier sind.

Sterchis erstes Buch kennen alle. Es ist der Roman «Blösch», der den Leidensweg der roten Kuh vom Knuchelhof bis zu ihrem Tod im Schlachthaus erzählt. Geschrieben hat er den Text in Kanada, wo er seit 1970 lebte. 1982 kehrte er mit dem fertigen Romanmanuskript nach Europa zurück. Im Herbst 1983 wurde «Blösch» vom Diogenes-Verlag aufwendig lanciert. Weit über die Landesgrenzen hinaus rauschten die Feuilletons mächtig auf – auch die WoZ tat ihr Möglichstes. Der Roman wurde im Bereich der Schweizer Literatur zum belletristischen Erstling des Jahrzehnts, zum «Wettermacher» der achtziger Jahre sozusagen. Mittlerweile ist Blösch bei weitem die prominenteste Kuh der hiesigen Literatur, und das Buch hat sich zum Longseller entwickelt, ist auf deutsch mehr als 20 000mal verkauft worden und in Übersetzungen in den USA so gut zu kaufen wie in Spanien.

Das zweite Buch ist eigentlich nur eine Broschüre und kaum jemandem bekannt. Es heisst «Skizzen aus einem spanischen Dorf» und ist 1985 im Herodot-Verlag in Göttingen herausgekommen. Darin finden sich auf 30 Seiten tagebuchartige Notizen zum Alltag im kleinen Dorf Chiva de Morella in der Provinz Castellón, 900 Meter über Meer, abgelegen, nur noch teilweise bewohnt, mitten in kargen Kalkbergen. Hier hatte sich Sterchi nach der «Blösch»-Saison eine Hausruine erstanden und wieder bewohnbar gemacht, hier holte er sich im eigenen steilen Stück Steineichenwald sein Brennholz, wenn die Temperaturen schon im Spätherbst gegen null Grad zu sinken begannen, hier lebte und schrieb er während der längsten Zeit der folgenden Jahre. – Ja. Und nach diesen Skizzen aus Chiva kam zehn Jahre lang kein Buch mehr, obwohl Sterchi als Schriftsteller kontinuierlich weiterschrieb und man von ihm, verstreut in in- und ausländischen Medien, immer etwa wieder kurze Erzählungen, Essays oder Reportagen lesen konnte.

Und nun liegt also ein drittes Buch vor. Es heisst: «Going to Santiago. Spanien. Fahrten, Fährten, Feste». Es ist Teil der Reihe WoZ im Rotpunktverlag und fasst die Spanien-Reportagen zusammen, die er in den Jahren 1984-1994, zumeist in Chiva, verfasst hat. Neun von ihnen sind zuerst in der WoZ erschienen, sieben in verschiedenen anderen Medien, dazu kommen zwei Erstveröffentlichungen.

*

An dieser Stelle könnte man nun selbstverständlich zur angesagten Feier des Tages hell die Pokale erklingen lassen auf unseren Sterchi. Jedoch: Allzu kritiklos durch die Welt zu gehn ist ungesund. Irgendetwas stimmt ja hier offensichtlich nicht: Statt 1985 der zweite Roman 1995 nur Reportagen, zum grössten Teil als Zweitverwertung nota bene; statt Diogenes nur WoZ im Rotpunktverlag. Irgendetwas ist doch da schiefgegangen.

Warum hat Beat Sterchi nach seinem fulminanten Start als Romancier im Herbst 1983 nicht, wie man das halt muss in diesem Geschäft, spätestens 1985 einen dünneren Zweitling nachgeschoben – von dem man zum voraus gewusst hätte, dass er nach dem erfolgreichen Erstling vom ritualisierten Feuilletonpalaver gewohnheitsmässig verrissen worden wäre –, um dann, sagen wir allerspätestens 1987, seinen zweiten grossen Roman zu veröffentlichen und damit über die Landesgrenzen hinaus zu dem jungen Schweizer Erzähler zu avancieren?

*

In der so genannten WoZ-Realismusdebatte des Winters 1983/84 hat Sterchi in seinem Diskussionsbeitrag gefragt: «Warum wagen wir uns nicht öfter ran an die harte Wirklichkeit? Warum schreibt keiner dem Schmerz entlang, warum filmt keiner bis zum Stachel im Fleisch, bis hin zu den Zentren der Macht, bis hin zu den Schnittpunkten von sehr viel Leid?» Diese Fragen las damals wohl nicht nur ich sozusagen als Ankündigung eines nächsten, sozialkritischen Romans. Wenn wir uns in den folgenden Jahren bei seinen sporadischen Bern-Aufenthalten in der Altstadt, gewöhnlich im «Falken», auf ein Bier getroffen haben, habe ich unser Gespräch deshalb gewöhnlich, mit immer ironischerem Unterton, mit der Frage eröffnet: «Soo, und wi geit’s em Roman?» So intensiv wir über andere Themen auch debattierten, bei dieser Frage wurde Sterchi jeweils wortkarg, machte irgendeinen faulen Spruch oder blickte unvergleichlich nachdenklich ins Bierglas.

Dabei wusste ich, dass er es nicht einfach nicht versuchte. Am 15. November 1987 zum Beispiel schrieb er mir aus Spanien: «Hier habe ich (…) ein bisschen Ruhe gefunden, um fast alles, was ich in den letzten Jahren geschrieben habe, als dilettantisch und unnötig zu erkennen. Mein Roman ist wieder mal geschrumpft. Gestutzt habe ich ihn bis auf das dünne Stämmchen, wo der Jahreszeit zum Trotz, ein paar Zweigchen Triebe zeigen.» Direkt daran anschliessend kam ein Hinweis, der mich hellhörig machte: «Aber eine Art Bühnenpartitur habe ich auf Berndeutsch geschrieben. Zuerst war ein Versuch, dann lange nichts, jetzt ist ‘Dr Sudu’ daraus geworden.» Sterchi suchte also auf dem Feld der Dramatik und in der Auseinandersetzung mit dem berndeutschen Dialekt nach neuen Ausdrucksformen. Im Zusammenhang mit dem erwähnten «geschrumpften Roman» hiess das für mich, dass er die Schwierigkeiten bei seiner epischen Arbeit zur Zeit als nicht überwindbar einschätzte. Bereits ein Jahr später kam «Dr Sudu» in Bern zur erfolgreichen Aufführung. 1990 folgte «Äm Gessler sy Huet», 1991 «Vom Elend in den Chefetagen» – und zur Zeit ist, ebenfalls in Bern, seine Bearbeitung von Walter Vogts Roman «Wüthrich» zu sehen.

Damit ist allerdings die Frage nicht beantwortet, warum Sterchi bis heute an seinem zweiten Roman gescheitert ist. Meine Hypothese ist in Kürze folgende: Bei der Lektüre seiner Theaterstücke fällt auf, dass sie allesamt keinen roten Faden im Sinn eines griffigen Plots haben. Er hat dem Regisseur vielmehr jeweils Dialoge und Einzelszenen sozusagen zur Auswahl geschrieben; es war nicht einmal immer festgelegt, welche Figur welchen Part zu sprechen habe. Mit anderen Worten überliess er es dem Regisseur, den Plot, also die narrative Mechanik des Stücks, festzulegen.

Was dem Theaterregisseur als Tugend des Dramatikers Sterchi erscheinen mochte, war die schiere Not des Romanciers Sterchi. Dieser durchschaute – so erinnere ich mich heute unserer «Falken»-Gespräche – jene Methode der Wirklichkeitsabbildung, die er im «Blösch» so erfolgreich angewendet hatte, immer mehr als schlichen Irrweg. War denn die Abbildung der «harten Wirklichkeit dem Schmerz entlang», wie er es selber gefordert hatte, im Sinnkorsett einer fiktiven Struktur, einer erfundenen Story überhaupt möglich? Solange das Räderwerk einer Geschichte fiktioniert ist, können die darüber gepappten Versatzstücke noch so wirklichkeitshaltig sein, die Konstruktion der Fiktion tuckert trotzdem immer an der Welt vorbei. Hier liegt, vermute ich, bis heute das ungelöste theoretische Problem des Romanciers Sterchi.

*

Dass er sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre neben dem Theater vor allem auch der Reportage zugewendet hat, war so gesehen eine künstlerische Notwendigkeit. Das vorliegende Spanien-Buch dokumentiert auch diese Jahre der schriftstellerischen Krise. Es ist deshalb ein Buch des Übergangs, uneinheitlich in der Darstellungsweise, manchmal das welt-erfahrende Ich inszenierend wie einen allwissenden Erzähler, manchmal Formen der exakt gearbeiteten, journalistischen Gebrauchsreportage demonstrierend. Das Buch zeigt Sterchi auf dem Weg weg von den Sinnkorsetts der Narration hin zu sinn-freieren Formen der Weltabbildung. Es gibt – und das gilt für alle Schreibenden, die sich weiterhin mit der Welt und nicht nur noch mit ihrer Sprache auseinandersetzen –, es gibt nichts Wichtigeres als die hartnäckige Suche nach diesen Formen. Aber es gibt auch nichts Schwierigeres. Ich verstehe Sterchis Weg vom «Blösch» zum «Santiago»-Buch so, dass sowohl die «Zentren der Macht» als auch die «Schnittpunkte von sehr viel Leid», wie er seinerzeit postuliert hat, offenbar tendenziell ausserhalb der Einbildungskraft der fiktionierenden Kombinationsfähigkeit liegt.

Die Würdigung der Reportagen im einzelnen wird in der WoZ der Wiener Schriftsteller Erich Hackl vornehmen. Deshalb hier nur soviel: Mit seinem Buch ist Beat Sterchi zweierlei gelungen.

• Er hat erstens mit der Reportage selber formal einen neuen Blick auf die  Welt gefunden, der ihm die schriftstellerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit neu ermöglicht hat.

• Und er zeigt uns zweitens, was die Kunst der sozialen Reportage ausmacht: Er zeigt uns im Einzelnen das Ganze, er zeigt das Typische von Spanien im Kleinen, an den Rändern und von den Rändern her. Recherchieren heisst für Sterchi nicht nur Zeitungsartikel zusammenfassen und herumtelefonieren, sondern hingehen – und wenn es zu Fuss ist durch ganz Nordspanien bis nach Santiago de Compostela –, recherchieren heisst für ihn hinschauen, fragen, hinhören, nachdenken, mit einem Wort: er-fahren. Dabei wird er nie zum «Beobachter dass Gott erbarm», wie sich Franz Böni einmal bezeichnet hat. Die hervorragendsten Eigenschaften von Sterchis Ton sind die Menschenfreundlichkeit und die Ironie. Er bleibt freundlich, auch wenn er kritisiert. Und ironisch distanziert, auch wenn er liebt.

So ist es ihm gelungen, die alltäglichen Schnittpunkte von Leid, aber auch von Freude in einer fremden Wirklichkeit plastisch und nachvollziehbar darzustellen in einer Art, dass einem Spaniens Land und Leute ausserhalb der Schlagzeilen schätzens- und liebenswert werden und man dem Reporter gerne länger zugehören würde.

Kann man von einem reisenden Schriftsteller mehr verlangen?

Diese Rede hielt ich am 28. September 1995 auf der WoZ-Redaktion in Zürich, wo die Vernissage von Beat Sterchis Reportagenband «Going to Santiago» stattfand. (22.4.2019)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5