Florettfechter im Scheinland

Ein kleiner Schreibtisch. Drauf nichts als ein Laptop, zugeklappt. Drüber ein Bücherbord: eine Reihe längs gestreifter, grün-blauer Broschurbände, verschweisst. «Ich weiss ja, was drinsteht», sagt Alex Gfeller, und: «Diese Bände sind meine Botschaft. Von mir kommt nichts mehr. Das Thema Schreiben ist für mich erledigt.»

Gfeller, 63, bezeichnet sich als pensionierten Schriftsteller. Tatsächlich liegt sein für ihn abgeschlossenes Gesamtwerk vor: 15 Bände, vor allem Erzählungen und Romane, insgesamt knapp 5800 Seiten, Band für Band abrufbar bei Books on Demand (siehe Kasten). «Damit habe ich mir das geboten, was mir kein Verleger geboten hätte: eine Gesamtausgabe, genau so, wie ich sie haben will. Darauf bin ich stolz.» Was er in Kauf nimmt: Kaum jemand weiss von seinem Werk. Und ganz gelesen hat es mit Sicherheit noch niemand.

Der jugendliche Drang zum Nützlichsein

Was ist denn das für ein Sonderling? Wer jung genug ist, darf so fragen. Wer älter ist, fragt anders: Alex Gfeller, war das nicht einer dieser kritischen Jungen in der «Gruppe Olten»? Gaben nicht Lenos und Zytglogge seine Bücher heraus? «Marthe Locher», «Harald Buser», «Der grosse Kurt»? Und schrieb er daneben nicht Hörspiele, Filmdrehbücher, Theaterstücke? – Doch.

Aber was ist denn seither passiert? In seiner Wohnung in Biel beginnt Gfeller zu erzählen: «1992 kam im Zyglogge-Verlag mein Roman ‘Der Filz’ heraus, eine Geschichte über die politische Korruption im Kanton Bern. Danach war fertig: eisige Stille.» Keine Rezensionen, keine Einladungen zu Lesungen, keine Preise. Es sei gewesen, wie wenn er für die Öffentlichkeit gestorben wäre. Auch für den Verlag, von dem er vermutet, der Kanton Bern habe ihn unter Druck gesetzt, indem er mit der Verweigerung weiterer Druckkostenzuschüsse gedroht habe. – Einspruch: Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs sollte die zuständige literarische Kommission in  globo derart korrupt gewesen sein, dass die entsprechende Weisung nicht zumindest öffentlich geworden wäre?

Zweifellos, Gfeller pflegt Verschwörungstheorien. Mit Grund: 1971, nach Gymnasium und Auslandaufenthalten in Israel und Dänemark nimmt er das Studium des Seklehramts an der damals politisch unruhigen Universität Bern auf. «Aus dem jugendlichen Drang heraus, nützlich zu sein, wollte ich damals auf der richtigen Seite politisch etwas tun.» Er tritt der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA) bei. An seiner ersten Parteiversammlung im Säli des Restaurants «Südbahnhof» trifft er «sechs Manndli». Später entnimmt er seiner Staatschutzfiche das Datum dieser Sitzung. Eines der «Manndli» war ein Spitzel und hat gemeldet, es gebe einen neuen gefährlichen Kommunisten: Alex Gfeller.

Abwehrschlacht über 25 Jahre

1974 beendet Gfeller seine Karriere als Politiker. Zum einen ödet ihn das realpolitischen Gerede an, zum andern will er schreiben, zum Dritten hat er seine Ausbildung abgeschlossen und – trotz Lehrermangels – Probleme bei der Stellensuche als Sekundarlehrer. Ein Schulkommissionspräsident  begrüsst ihn zum Vorstellungsgespräch mit der Frage: «So, wollt Ihr unsere Schüler kommunistisch beeinflussen?»

Schliesslich findet Gfeller in einer Quartierschule in Biel eine Anstellung. Die dortige Schulkommission wird zu spät darüber informiert, wer er ist. «Vierzehn Tage später wollte man meine Wahl rückgängig machen, was aber arbeitsrechtlich nicht möglich war.» Davon, dass man damals entschied, ihn stattdessen solange fertig zu machen, bis er freiwillig gehe, ist Gfeller überzeugt. «Deshalb habe ich im Lehrerzimmer nie an politischen Diskussionen teilgenommen. Und ich habe mich in Biel in all den Jahren nie politisch betätigt.»

Genützt hat’s nichts. Die Verleumdungskraft seiner Staatschutzfiche und die Tatsache, dass er seit 1976 als Schriftsteller hartnäckig sozialkritische Belletristik veröffentlicht, machen ihn für die Kalten Krieger im Lehrerzimmer und im Quartier zum idealen Feindbild.

Viele Jahre später nimmt ihn ein Kollege, der in Pension geht, zur Seite und sagt ihm zum Abschied, er habe ihn, Gfeller, nun all die Jahre im Auge gehabt, und er müsse sagen, er habe sich im Grossen und Ganzen still gehalten. Blitzartig wird Gfeller damals klar, warum dieser Kollege, Oberleutnant in der Schweizer Armee, ihm einmal seine Dienstpistole zum Kauf angeboten und ihn ein andermal auf Übersetzungsprobleme in Tolstois Roman «Anna Karenina» angesprochen hat: Ein kommunistischer Geheimagent muss doch an Waffen interessiert sein und als Moskauhöriger fliessend Russisch sprechen.

Trotz all dem lässt sich Gfeller in Biel nieder: Er heiratet, hat zwei Kinder, erwirbt später eine Eigentumswohnung. Auf die Anfeindungen und Intrigen, die Jahr für Jahr nicht aufhören, reagiert er mit erhöhter Vorsicht, mit präventivem Misstrauen. Wo aber beginnt die Verschwörungstheorie, die den Ereignissen diesen fatalen Drall zur selbsterfüllenden Prophezeiung gibt?

Daneben der Berufsstolz: Gfeller weiss und lässt es sich nicht nehmen, dass er gewissenhaft arbeitet, und er nimmt sich vor, nicht freiwillig zu kapitulieren. Darüber hinaus schwört er sich, sich nie ins Lehrerzimmer zu stellen und zu sagen, er sei seit 1974 nicht mehr in der PdA. So tief sinken und den Fichendreck auch noch dementieren, das nicht.

Gfellers Berufsleben wird zur Abwehrschlacht gegen «die ganze Abgefeimtheit, Verdorbenheit, Verschlagenheit, Bösartigkeit, Heimtücke, der ich als Lehrer immer wieder ausgesetzt gewesen bin», wie er sagt. Auf der Fahrt ins Schulhaus wendet er am Morgen des 16. Oktober 2000 seinen Töff und kehrt nach Hause zurück: «Der Stecker war draussen. Es ist nichts mehr gegangen.» Die Ärzte sprechen von Burn-out und schrieben ihn krank.

Gfeller gerät in eine schwere Krise, sitzt monatelang zuhause, schluckt Tabletten und schreibt tagebuchartige Notizen über den Sturz in die Depression, gnadenlose Selbstzerfleischungen, dazwischen ätzende Ausfälle gegen jene, die ihn kaputtgemobbt haben. «Schummel ade» und «Notebook» heissen die beiden Books on Demand, die diese Notate versammeln. Sie gehören weder zur Gesamtausgabe, noch sind sie käuflich: Es sind Notate ohne Rücksicht auf den Verfasser und ohne Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte anderer. Dafür gibt es in der Gesamtausgabe den Roman «Im Scheinland» – Gfellers Abrechnung mit Biel; «ein Buch», sagt er, «das ich mit unverhohlener Schadenfreude geschrieben habe».

Gfellers endgültiges Buch

Im August 2001 wird der Sekundarlehrer Alex Gfeller frühzeitig pensioniert und ist nun endlich der Schriftsteller, der er immer war. «Es ist so: Wenn du ein Buch schreibst, gibst du immer das Beste. Und wenn du fertig bist, denkst du: Das nächste Mal mach ich’s noch besser.»

So sei das auch bei ihm gewesen. Bis zu seinem Meisterwerk, der Erzählung «Die letzte Meise». Am Anfang habe hier die akribische Beschreibung einer Schulreise gestanden. Diesen Text habe er machen müssen, um «die ganze Lehrerproblematik» loszuwerden, die ihm angehangen habe «wie Dreck». Entstanden sei eine Art Insiderbericht aus der Schule, der ihn, kaum abgeschlossen, nicht mehr interessiert habe.

Dann las er, wie 1952 in New York Robert Rauschenberg seinen Kollegen Wilhelm de Kooning im Atelier besucht und ihn um eine Bleistiftzeichnung bittet. De Konning gibt ihm eine, Rauschenberg radiert die Zeichnung fein säuberlich aus, nennt das leere Blatt «Erased de Kooning Drawing», rahmt es und stellt es aus. Das Bild hat heute seinen Platz in der Kunstgeschichte.

Darauf fragte sich Gfeller, welche literarische Operation eine äquivalente Bedeutung hätte und kam auf die Idee, den Text über die Schulreise so zu verändern, dass etwas ganz Neues, ganz Anderes daraus würde. Er machte aus den Schülern Würmer, aus Mitgliedern der Schulkommission und Eltern Katzen, aus Lehrern Meisen. So wurde aus «Die letzte Reise» allmählich «Die letzte Meise».

«Als ich fertig war, habe er gemerkt: Das ist genau das total authentische Buch, das ich eigentlich immer habe schreiben wollen.» Dass er bis jetzt niemanden kennt, der sein 532-seitiges Opus magnum gelesen hat, ist ihm egal: « Ich habe mein Zeug geschrieben und öffentlich greifbar gemacht. Mehr kann ich nicht tun.»

Ohne Anschluss an die Öffentlichkeit

Fehlt zwischen einem Buch und den möglichen Lesern und Leserinnen die öffentliche Vermittlung, dann bleibt das Buch totes Papier. Das ist das Problem der Selbstverlagsproduktionen. Zwar garantiert zum Beispiel das Books on Demand-Verfahren, in dem Gfeller seine Gesamtausgabe produziert hat, billigste Herstellung und den Wegfall der Lagerkosten dank der Möglichkeit, auf Bestellung einzelne Bücher herzustellen. Aber was nützt das, wenn die Medien sich – auch aus Gründen der Überlastung – weigern, Bücher zur Kenntnis zu nehmen, die nicht den Qualitätsfilter eines Verlags passiert haben? Ein rasch wachsender Teil der Buchproduktion bleibt ohne Vermittlung und wird deshalb nur in subkulturellem Rahmen öffentlich. Das gilt auch für wichtige, nötige und gute Texte.

Das alles weiss Alex Gfeller natürlich auch: «Es ist ja nicht so, dass ich mir diesen Weg ausgesucht und plötzlich gesagt habe: von jetzt an ohne Publikum.» Einverstanden, aber ob denn nicht auch seine Bücher geschrieben seien, um gelesen zu werden? Gfeller lacht: «Doch, klar. Na und? Willst Du eines?»

[Kasten]

Alex Gfellers Gesamtwerk

 

Die Gesamtausgabe von Alex Gfellers literarischem Werk umfasst zum einen das alte, in Verlagen erschienene Werk, zum anderen das bisher öffentlich nicht rezipierte Werk, das bei Books on Demand erschienen ist.

Das alte Werk (entstanden bis 1992):

• «November». Chronik der «Vernichtung der Partei der Arbeit» (1976).
• «Fünf Leute». Inhalt: «Marthe Locher» (1978); «Pauls Abend» (1980); «Zimmermanns Autofahrt» (1980); «Harald Buser» (1981) sowie «Der Grosse Kurt» (1986).
• «Das Komitee». Roman (1983).
• «Swingbruder». Roman (1986).
• «Doppelgänger». Roman (1986).
• «Der Filz». Roman (1992).

Das neue Werk (entstanden seit 1992):

• «Der Florettfechter». Erzählung (2007).
• «Im Scheinland». Roman (2008).
• «Am Po». Erzählungen (2009).
• «Über das Schreiben». Essay (2009).
• «Die letzte Meise». Erzählung (2010).
• «Tante Ida und ihr Ford Fordor». Erzählung (2010).
• «Harry’s Bar», «Mimi und Miguel», «Fredys Abgang» (= «Europäische Trilogie»). Drei Romane (2010).

Alle Bände tragen das Erscheinungsjahr 2010, die meisten mit dem Zusatz «Zweite, überarbeitete Fassung». 

Seither diesem WOZ-Porträt sind von Alex Gfeller als Books on demand erschienen: Nemesis (2011), Kurzer Abriss (2011), Ming Li (2012) sowie der Einblick in sein malerisches Werk: Meine Bilder (2012). 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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