«E Chemp löst sich vor Naguflue»

Die Allmendstrasse in Thun führt unter den Eisenbahngeleisen hindurch stadtauswärts Richtung Panzergelände. Links die Schmelzkäsefabrik Gerber. Rechts, an einer Fassade das Transparent: «GASSENKÜCHE»; einige Häuser weiter die Genossenschaftsbeiz «Alpenrösli». Darin, mir gegenüber am Ecktisch, einer der Verwaltungsräte des Lokals, Tinu Heiniger. Er ist 48jährig, aufgewachsen in Langnau im Emmental, Liedermacher seit Mitte der siebziger Jahre, seit zwei Jahren als Profi. Wir betrachten einen Weidenzweig in der Vase auf dem Sims. Er ist nicht rund, sondern merkwürdig breitgequetscht, ein brauner, geschwungener Fächer, Kätzchen treibend. Eine Ozonloch-Mutation? Wir wissen es nicht. Vor dem Fenster ein regnerischer Nachmittag, Vorfrühling.

Sprachrohr, Zopf und Illusionen

Martin Heiniger gelinge es, schrieb der Bildungsausschuss der SP der Stadt Zürich im August 1977, «die natürliche Überlegenheit des Sozialismus über das kapitalistische System ganz natürlich darzustellen». Heiniger ist damals Singlehrer in Balsthal im Solothurnischen, lebt – verheiratet und als Vater eines kaum jährigen Buben – in Burgdorf, ist Mitglied der SP. Nach einem Auftritt im «Chrämerhuus» in Langenthal wird er mit dem Ausspruch zitiert, Sozialismus sei für ihn Lebensfreude. Seine erste Langspielplatte heisst «Es schysst mi a!», ein Refrain darauf lautet: «Was zeut, das sy die guete Schtunge, / Wo mir üs wehre für ne Wäut, wo’s no nid git.» Einer Journalistin der «Berner Nachrichten» erklärt er im gleichen Sommer 1977, er möchte «Sprachrohr sein für all diejenigen, die ihre Anliegen nicht selber vertreten können». So hat der Liedermacher Tinu Heiniger angefangen. – Zopf und Schnauz hat er längst abgeschnitten, die Lederjacke jetzt über den Stuhl gehängt, trinkt heissen, weissen Holunderblütensirup und sagt: «Sprachrohr sein zu wollen ist eine Anmassung gewesen. Ich kann nur für mich selber reden. In dem, was ich von mir selber erzähle, können sich andere bestenfalls wiedererkennen. Das reicht. Die Ziele von damals waren ja wahnsinnig hoch gesteckt.» Dann sei der Anspruch von damals, sich für eine Welt zu wehren, «wo’s no nid git», also eine Illusion? «Nun ja, wenn du in eine Welt geboren wirst, wo man erzählt, die Büezer müssten sich nur zusammentun, danach schafften wir die Befreiung für alle, dann denkst du noch schnell: Wow, klar, genau. Wer will das nicht, dass alle frei sind? Dass sich wirklich etwas ändert, ohne dass sich die Menschen ändern, das war die Illusion der gesamten Linken. Stell dir vor, die Gewerkschaften hätten sich Anfang Jahrhundert gesagt: Wir wollen eine Arbeiterklasse heranbilden, die fähig wird, die eigenen Betriebe zu führen – das wäre eine Perspektive gewesen. Aber stattdessen hat man seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem von diesem Mehr-mehr-mehr und vom Schtutz geredet. Die Künstler haben in der Arbeiterbildung nie einen grossen Stellenwert gehabt.» Im «Abelied» (1990) beschreibt Heiniger eine Demonstration in Bern und fügt dann lakonisch bei: «Paar Büetzer flicke bi der Bank / Ds Schoufänschterglas.» Im Lied «Ds Läbe tuet weh» (1993) hält er desillusioniert Rückschau: «Für d’Büetzer ha mi gwehrt, ha gspilt, ha demonschtriert / S’het kene glost – Freiheit heisst hie für die: Bahamas, / Chare, Chole, Fernsehapparat!»

«Di Tröim sy schön, di Tröim sy aut»

Das Lied «Naguflue» auf Heinigers neuster CD ist ein mit gestrichenem Bass und Bassklarinette dunkel grundiertes Fussgängerlied: Ein Ich steigt – um abzuschalten – in die steilen bewaldeten Hänge über dem Thunersee. Beim Eindunkeln «touche Mönsche uf / Mängs tuusig – uf dr Flucht!»: Es sind Tagesschaubilder, die man nicht mehr los wird, Kurden und Kurdinnen im Nordirak, der Giftgaskrieg, um Brot schlangestehende Menschen. Es wird kühl. Das Ich zieht den Pullover an, raucht eine Zigarette, erinnert sich der Träume von einer Welt ohne Herren und Knechte, dann: «E Chemp löst sich vor Naguflue / Vo wyt tönt d’Outobah n/ U jetz flügt d’Amsle uf – u lue! / Si flügt nach Kurdistan!» In diesem Text führt Heiniger – so klar zum ersten Mal – die drei zentralen Ebenen seiner Poesie gleichberechtigt zusammen und verwebt sie zu einem Ganzen: das politische Engagement, die kontemplative Naturbeobachtung und die für ihn zunehmend wichtiger werdende Reflexion der eigenen Bedingtheit und Hinfälligkeit. Der Wille zum Verändern, das Staunen und das Jasagen zum Unabänderlichen verschmelzen zur stillen Radikalität eines «ganzen Menschen».

Höbel, Klassenkampf und Mist

Wenn einer sich verändert, um sich selber zu werden, so hat er zuvor nachzudenken begonnen. Jetzt beginnt im «Alpenrösli» Tinu Heiniger zu erzählen: «Mein Linkssein hatte ja von Anfang an auch einen familiären Background. Die Sache mit der Bourgeoisie und dem Proletariat war für die Mittelstandsschichtler, wie ich einer bin, immer auch die Übertragung eines Autoritätsproblems. Ich konnte ja damals nicht meinen Vater verhauen, also wollte ich halt der Bourgeoisie gleich als Ganzes uf d’Schnure gä. Ich will mein damaliges Engagement nicht auf diese psychologische Deutung reduzieren, aber diesen Teil muss man auch sehen. Mein Vater war eben damals der Chef, als ich mit zwanzig, nach meiner Möbelschreiner-Stifti in Bern, eine Zeitlang in seiner Bude gebügelt habe. Mit ihm habe ich in der Werkstatt den Klassenkampf ausgetragen. Da sind die Höbel und die Hämmer geflogen. Es ist eine Illusion zu meinen, man könne Privates, Persönliches, die ganze Herkunft abkoppeln von der eigenen politischen Tätigkeit. In diesem Punkt sind die 68er nicht sehr weit gekommen, dort müssen wir weitergehen und erkennen, dass alles zusammengehört. Vordergründig wird ja in linken Diskussionen immer politisch argumentiert. Aber darunter lassen sich Interessen finden, die auf einem ganz persönlichen, familiären und erzieherischen Mist gewachsen sind. Diesen Mist muss man anschauen, denn dieser Mist macht uns in unserem Handeln aus. Bis ich das begriffen habe, bin ich durch schlimme Schmerzen hindurchgegangen, musste Illusionen, auch solche über mich selbst, fallenlassen. Das passiert übrigens bis heute immer wieder. Der erste Schmerz war, dass ich in der persönlichen Beziehung zu meiner damaligen Frau versagt habe. Das hat auch mit diesen 68er Zeiten zu tun gehabt: Der freie Bums-Verkehr jener Jahre, mit anderen Frauen gehen und trotzdem meinen, zu Hause eine Frau haben zu müssen – das sind auch Illusionen gewesen. Auch dort diese Weigerung, tiefer gehen zu wollen. Erinnerst du dich an Meienberg in den ersten Tagen des Golfkriegs? Damals hat er die Welt retten wollen, hat mitten in der Nacht stundenlang herumtelefoniert, um die Leute davon zu überzeugen einzugreifen, die Welt zu retten. Vielleicht war dies ein Ausdruck dieser 68er-Äusserlichkeit, dieses verzweifelte äussere Ändernwollen, dem möglicherweise auf der anderen Seite die Weigerung entspricht, sich selbst zu ändern.»

Angst, «Grabe-Lied» und Plausch

Heiniger: Aber das Ändernwollen und das Sich-selber-Verändern schliessen sich eben nicht aus. Wenn ich als «veränderter Typ» auf die Bühne stehe und zum Beispiel versuche, mich möglichst ohne Maske zu zeigen, dann hat das eine andere Wirkung, als wenn ich nach wie vor jammern würde über die Schlechtigkeit der Welt. Heute habe ich oft wahnsinnig den Plausch aufzutreten.

WoZ: Das war früher nicht so?

Ich habe früher ab und zu wirklich gelitten. Auf dem Bundesplatz, als ich an einer Anti-AKW-Demo das «Grabe-Lied» gesungen habe, da bin i fasch abe vor Angscht.

Lampenfieber?

Nein, Todesangst, wirklich. Ich hab mich gefragt: Warum mach ich das eigentlich, wie komme ich darauf, mich vor Tausenden von Leuten dermassen zu exponieren? Vermutlich habe ich durch diese Angst hindurchgemusst. Dabei ist es nicht so, dass ich später keine Ängste mehr gehabt hätte. Als ich angefangen habe, mehr private Sachen zu singen, habe ich auch Angst gehabt, habe gedacht: Kann man das überhaupt oder ist das jetzt vor allem eine Nabelschau? Erst als die Leute zu mir gesagt haben: He, das kenn ig o, was du da singsch, hab ich gewusst: Es ist gut, dass ich diese Lieder singe. Nicht nur für mich.

Angst war ja schon immer ein Thema in deinen Liedern. Im Lied «Es schysst mi aa» hast du 1976 von einem Stift gesungen: «Wettsch d’Angscht verschlah!», und in einem deiner neuen Lieder hat der Flugzeugmechaniker Dante Santesso im Schlaf Angst und «e churze, schwäre Schnuuf».

Irgendwo habe ich immer gewusst: Unter jedem Anschiss ist ganz sicher eine Angst, zum Beispiel die Angst, in einer Welt zu sein, in der von aussen bestimmt wird, wie ich funktionieren muss, die Angst, als Individuum überfahren zu werden.

«U gäu, ’s hudlet di chly»

Das zweite Fussgängerlied auf der neuen CD heisst «Ämmelied»: Eine mit Du angeredete Person ist zu Fuss unterwegs, «vV Schache zu Schache / Am Ämmebett nache / Uf Matte u Wäge / Am Bach na z düruf». Einfache Verse, einfache Reime, einfache Bilder, aber trotzdem mehr als eine harmlose Hommage an Heinigers engere Heimat, das Emmental. Man muss allerdings die unauffälligen Signale, die in eine andere Richtung weisen, beachten. Da ist einmal die musikalische Spannung, die dadurch entsteht, dass Heiniger seine dreitaktigen Verse in breiten Triolen über den geradtaktigen Schritt singt, den das Schlagzeug unterlegt. Die Reibung zwischen Versmass und musikalischem Metrum nimmt die Brüchigkeit der heilen Welt auf, die im Inhalt des Liedes vorgegeben ist: Bei einer Rast an der Emme tauchen das Gefühl «Vo Abschied, vo Verla / Vo mau müesse ga» und plötzlich gar der Tod auf. [Är] «hocket ou hie am Bach / Näbe dir, scho rächt nach!» Danach beginnt es einzunachten und während die warmen Stuben wegen der Tagesschau blau ins Dunkle hinausflimmern, geht der Weg über das Lied hinaus weiter, «ar Quelle egäge» – die Emme entspringt hinter dem Hogant, in einer gottverlassenen Gegend am Augstmatthorn. Trotz Einfachheit und Charme gehört das «Ämmelied» deshalb in die Reihe jener Lieder, in denen sich Heiniger in den letzten Jahren mit Sterben und Tod auseinandersetzt (vgl. «Jede chunnt u jede geit» oder «Erinnerig a d’Grossmueter» [beide 1990]). Sein Weg, dem wir an diesem Nachmittag im «Alpenrösli» zu folgen versuchen, hat von den grossen politischen Antagonismen oben/unten und gerecht/ungerecht zu einem existentiellen zwischen Leben und Tod geführt.

Trommeln, Selbstmitleid und Schmerz

Für Tinu Heiniger ist dieser Weg, den er seit den siebziger Jahren zurückgelegt hat, das Resultat von «persönlicher Büez». Diese Arbeit habe für ihn zuerst und vor allem darin bestanden, sein «linkes Selbstmitleid» zu überwinden: «Wir haben uns ja damals als jene verstanden, die alles besser wissen; als jene, die die bessere Welt machen und alle anderen sind d’Gigle. Und weil wir dabei dauernd aufs Dach bekommen haben, konnten wir uns wunderbar selber bemitleiden. Mir hat dann einmal ein irischer Lehrer, bei dem ich regelmässig Kurse über Körperenergie besuche, gesagt: ‘Your problem is your self-pity.’ Seitdem ich mich damit auseinandersetze, habe ich manchmal das Gefühl, Selbstmitleid sei eine Volkskrankheit.» – Was er denn dagegen getan habe? – «Ich kann dir einfach ein Erlebnis erzählen. Ich mache in einer Trommelgruppe mit. Wir sitzen im Kreis. Immer einer geht in die Mitte und bewegt sich so, wie’s gerade kommt. Das geht nächtelang, manchmal beginnen wir abends um neun oder zehn und am anderen Morgen um fünf sind wir immer noch dran, halb in Trance und todmüde. Nach solchen Nächten sitzen wir manchmal dann noch zusammen und erzählen uns, wie’s gewesen ist. Als ich einmal zu erzählen begann, habe ich plötzlich wahnsinnig ggrännet, es hett mi ghudlet, denn ich habe von meinem Père und meinen tiefen Verletzungen aus der Kindheit zu erzählen begonnen. Dort bin ich zur Wurzel eines Verhaltens- und Daseinsmusters gekommen, das mein Lebensgefühl stark geprägt hat. Ich habe zum Beispiel begriffen, warum ich mich immer einen armen misshandelten Siech habe finden müssen. Bis dahin hatte ich immer gemeint, ich komme los von den Beziehungsproblemen mit meinem Vater – die sich ja immer wieder dort zeigen, wo ich es mit Autoritäten zu tun habe –, wenn ich ihn hasse oder mich gegen ihn auflehne. Dieses aus Kindheitsverletzungen geprägte Verhaltensmuster hat in jener Nacht viel an Gewicht und Dominanz verloren, als ich – ­dadurch, dass die Kontrolle des Denkens wegfiel und das ‘busy mind’ erschöpft war – in dieser tiefen Müdigkeit nach dem Trommeln gefühlsmässig noch einmal an meinen Schmerz von damals herangekommen bin. Als ich an jenem Morgen nach Hause ging, war ich rundum glücklich, denn ich habe gespürt, dass ich eine alte Tonnenlast losgeworden bin.» – Wenn man sich solchen Erfahrungen aussetze, riskiere man aber auch etwas. – «Allerdings», er lacht, «du riskierst, dass du nicht mehr der gleiche bist wie zuvor. Und das ist im wahrsten Sinn des Wortes heilsam.»

«Ich bin ein Künstler»

Jetzt erzählt Tinu Heiniger von der anderen Angst, die er auch kennt, jener vor dem Ausbrechen: «Ich habe in der Stifti immer gesagt: Ich gehe, ich komme nicht mehr. Trotzdem habe ich die Lehre fertiggemacht: Ich hatte zuviel Angst auszusteigen. Auch vor zwei Jahren hatte ich Angst, mit dem Schulehalten, diesem finanziell relativ sicheren Teilzeitjob, aufzuhören. Aber wenn man sich bewusst ist, dass man Angst hat, kann man ja auch sagen, ok, ich habe Angst, aber ich mach’s trotzdem.» Nachdem Heiniger auf dem zweiten Bildungsweg das Lehrer- und Lehrerinnen-Seminar Langenthal absolviert hatte, arbeitete er mit einem 40 Prozent-Teilpensum als Singlehrer; zuerst zwölf Jahre in Balsthal, dann vier Jahre in Interlaken. Er kündigte am Tag, nachdem er geträumt hatte, er sei vor die Klasse gestanden und habe gesagt: Ich komme morgen nicht mehr. Seither arbeitet er professionell an seinen Liedern, organisiert, korrespondiert und übt wieder täglich auf der Klarinette, mit der er in den siebziger Jahren in Jazz-Bands mitgespielt hat. Vom Möbelschreiner und Lehrer ist er zum Künstler geworden: «Noch bis vor kurzem hätte ich mich nicht getraut zu sagen: Ich bin ein Künstler. Aber jetzt habe ich selber ein Gefühl dafür: Jener ist ein Schreiner und macht Möbel. Ich bin ein Künstler und mache Kunst. Punkt.»

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Texts waren von Heiliger im Zytglogge-Verlag folgende Tonträger greifbar: «Es schysst mi a» (1976); «So Lüt wie anger Lüt» (1978); «Mängisch fägt’s no» (1979/80); «Live im Chrämerhuus» (1981); «Wassermelonemaa» (1984); «Sächs Liebeslieder und ei Tango» (1986); «Jede chunnt u jede geit» (1990); «Läbe wie ne Chatz» (1993). 

Tinu Heinigers aktuelle Discografie findet sich hier

In der WoZ erschien der Text unter dem verkürzten Titel: «E Chemp ir Naguflue».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5