Die verlorenen Töne des Papiertrompetenbläsers

«Und was dem Menschlichen Auge sichtbahr, oder unsichtbahr ist: Kann mittelst fein gebildetem Menschensinn, guhtem Willen, Fleiss und vorhandenem, geeignetem Matteriahl in Musik=Lieder=Text verwandelt werden und zwahr vom kleinsten bis zum grössten Gegenstand oder, Nichtgegenstand.»
(Adolf Wölfli) 

«Adolf Wölfli – der Klassiker der art brut» (Elka Spoerri) - Adolf Wölfli (1864-1930) war Verdingbub und Knecht in Schangnau im Emmental, später Handlanger in Bern. Dort geriet er «wegen Versuchs Beischlaf mit Kindern unter 12 Jahren» – so die Akten – in die Hände der Richter und Doktoren, erhielt zuerst zwei Jahre Zuchthaus, dann, 1895, das soziale Todesurteil: Er sei «unzurechnungsfähig», «gemeingefährlich» und «geisteskrank» («definitive Diagnose»: «Dementia paranoides», später noch definitiver und modischer: «Schizophrenie»). Das bedeutete für den 31jährigen die Internierung für den Rest des Lebens. In der Anstalt «Waldau» bei Bern war er zuerst verstört und gewalttätig. Deshalb wurde er 1897 für zwanzig Jahre in der Zellenabteilung eingesperrt. Das machte ihn ruhiger. Er begann sich «Natuhrvorscher, Dichter, Schreiber, Zeichner, Componist» zu nennen, später «Skt. Adolf II», Schöpfer seines eigenen Kosmos. Seit seinem Tod dient er dem Kunstbetrieb als «Klassiker der art brut». – «Bitte stellen Sie in Ihrer Berichterstattung das Werk vor die Story», begrüsste die um Wölflis Werk hochverdiente Elka Spoerri zur Presseführung der Ausstellung «Adolf Wölfli als Zeichner und Komponist». Niemand wäre kompetenter als sie, über Wölfli zu sprechen. Im Auftrag der Adolf-Wölfli-Stiftung bearbeitet sie seit zwanzig Jahren das «Stiftungsgut», den Kontinent von Wölflis Werk, Tausende von Zeichnungen und Collagen, dazu das dichterische Schaffen, das 45 Bände in Zeitungsformat und 16 Schulhefte mit insgesamt 25000 dicht beschriebenen Seiten umfasst.

Leere Notenlinien, Notenbilder, Solmisationen. – Spoerri: «Im ersten Raum sehen Sie Zeichnungen aus der ersten Periode, 1904 bis 1906». Bevor Wölfli für die Kunstbetrachtung relevant wird, ist er allerdings bereits seit neun Jahren in der Irrenanstalt. Zu zeichnen beginnt er spätestens 1899; die Arbeiten sind verloren. Bereits die ersten erhaltenen grossformatigen Bleistiftzeichnungen habe Wölfli als «Tonstücke» verstanden und als «Componist» signiert. Die Musik erscheint in diesen Bildern in Form leerer Liniensysteme (mit durchwegs sechs statt der üblichen fünf Notenlinien). Spoerri interpretiert diese Bilder «als erste Stufe im Erschaffen einer neuen Welt»: «Die Notenlinien ohne Notenzeichen stellen die Raum-Zeit-Ordnung der Klangwelt – das Konzept des Klanges – dar. Die Musik setzt später ein.» Die nächsten drei Räume zeigen Arbeiten bis Ende 1916: Mit Bleistift gemalte, grossformatige Partituren mit horizontalen Liniensystemen, in die mehrstimmige Tonsätze eingetragen sind; dann Blätter, auf denen die Räume zwischen den Notenlinien ausgemalt sind mit verwirrenden Schwarz-Weiss-Figurationen, lesbar sowohl als Positiv- als auch als Negativformen; dann farbige Partituren, deren Notensysteme die Blätter wellen- und kreisförmig überziehen und  Teil einer graphischen Gesamtkomposition aus Noten, Texten und Zeichnungen werden. – Ende 1916 gibt Wölfli das Notenschreiben auf und beginnt, seine Musik in Worten aufzuschreiben. Seine Werke heissen nun «Hefte mit Liedern und Tänzen» (1917-1922), «Allbumm – Hefte mit Tänzen und Märschen» (1924-1928) und «Trauer=Marsch» (1928-1930). Über Hunderte von Seiten schreibt er die Musik nun mit Solmisation auf (do, re mi, fa, sol etc.); später notiert er nur noch sich reimende Lautgebilde, verwendet von den Wörtern nur noch deren Klang, den lautmalerischen Wert des Sprachmaterials: «16. Chehr 1: Wiiiga, 16. Chehr 1: Giiiga, 16. Chehr 1: Stiiiga, 16. Chehr 1: Schiiiga…». Wölflis Werke münden, sagt Spoerri im abschliessenden fünften Raum mit Arbeiten aus dieser späten Zeit, «in die rhythmisch pulsierenden Lautkombinationen des ‘Trauer=Marsches’ ein, in eine unendlich fliessende Bewegung.» Der «Trauer=Marsch» umfasst 8’000 durchnummerierte Seiten und ist unvollendet.

Wie tönt Wölflis Musik? – 1921 hat der Psychiater Walter Morgenthaler, der Wölfli zwischen 1913 und 1920 als Oberarzt in der «Waldau» betreut hatte, ein Buch über ihn geschrieben. Darin heisst es: «Musik macht der Kranke durch Tuten in eine aus dickem Papier zusammengedrehte Tüte. Auf ihr bläst er seine Weisen, die Märsche, Walzer, Polkas, Mazurkas usw. Stundenlang musiziert er so allein in seiner Zelle. (…) Seine Musik mahnt an Blechmusik vom Lande.» Morgenthaler konnte Wölflis Partituren nicht lesen: «Fordert man den Kranken auf, eine solche Melodie vom Blatt zu spielen, so setzt er seine Trompete an und spielt nach einigen Versuchen eine Melodie herunter mit der Behauptung, es sei die Niedergeschriebene.» – 1976 haben die Musikwissenschaftler Peter Streiff und Kjell Keller in einem Aufsatz über die Schwierigkeiten beim Leseversuch von Wölflis Partituren berichtet. Neben bekannten Schriftzeichen (Liniensystem, Noten, Schlüssel, Taktarten und Taktstriche) fanden sie eine ganze Reihe von grafischen Symbolen, «deren Bedeutung wir bislang höchstens erraten können». Sowohl horizontal (Tonhöhe, Melodie) als auch vertikal (zeitliche Gliederung, harmonischer Zusammenklang) gelang eine Entzifferung nur punktuell und hypothetisch. Die beiden resümierten jedoch: «Eine weitere intensive Beschäftigung könnte neue Überraschungen bringen.» Dieser Aufsatz von Streiff/Keller ist im Katalog zur neuen Ausstellung nachgedruckt, dokumentiert bis heute den Stand der Entzifferungsversuche.

«Wiigen=Lied: Ist 32 Schleg Marsch» – Wichtige Parameter von Wölflis Musik sind mit Sicherheit der Rhythmus und der Klang der Sprachlaute. Dies ergibt ein Blick in die bisher veröffentlichten Schriften Wölflis, in denen häufig Gedichte in die Prosa eingeschoben sind. In seiner imaginären Lebensgeschichte «Von der Wiege bis zum Graab» (1908-1912) findet sich zum Beispiel folgendes «Wiigen=Lied»:

«G’ganggali ging g’gang, g’gung g’gung:
Giingara=Lina, Wiig ’R a sina.
G’ganggali ging g’gang, g’gung g’gung:
Rittara-Gritta, d’Zittara witta.
G’ganggali ging g’gang, g’gung, g’gung:
Giigaralina siig ’R a Fina.
Gganggali ging g’gang, g’gung g’gung:
Fung z’Jung, gung d’Stung. Chehr.
Ist 32 Schleg Marsch. Adolf Wölfli.»

Lesen Sie das Lied noch einmal! Sprechen Sie die acht Zeilen rhythmisch zu vier Schlägen mehrmals in zügigem Tempo vor sich hin (nehmen Sie «Chehr» mit der Bedeutung «Wiederholen» als zwei Schläge).

Das psychiatrische Apriori der Wölfli-Rezeption. – Hören Sie die lautmalerisch gestalteten Trommelwirbel («Rittara-Gritta») und den dumpfen Paukenschlag («g’gung g’gung»)? Hören Sie den Marsch, dieses noch heute landläufige Tschindärättä Päng Päng, sozusagen vordadaistisch formuliert? Ja? Dann ist es mir gelungen, Sie in die Irre zu führen. Denn richtig ist folgendes: «Sie [Die Gedichte, fl.] unterscheiden sich klinisch nicht von dem Unsinn, den andere dissoziierte Schizophrene produzieren.» So hat es Morgenthaler in seiner Arbeit über Wölfli, dieser «Pionierleistung eines unkonventionellen Psychiaters», diagnostiziert, die unterdessen «weltweit bekannt und berühmt» ist, wie Elka Spoerri 1987 geschrieben hat. Morgenthaler hat sein Buch mit «Ein Geisteskranker als Künstler» betitelt und damit den Psychiaterblick untrennbar mit Wölflis Kunst verbunden. Dass Wölfli primär geisteskrank und sekundär Künstler gewesen sei, ist das psychiatrische Apriori, das bis heute die Grundannahme der Wölfli-Rezeption bildet. Spoerri formulierte es an der Presseführung so: Für sie sei Wölflis gesamtes Werk «die Antwort auf seine Krankheit». Auf seine Krankheit? Wölfli war in Not, wurde für krank erklärt und versorgt. Aber war er 1895 wirklich krank?

Spieglein Wölfli an der Wand, wer redet am schönsten im ganzen Land? – Warum haben eigentlich all die Kunsttheorie-, Literatur-, Kunst- und Musikproduzierenden, die sich von Saison zu Saison fleissig von Wölfli inspirieren lassen, in all den Jahren die vernichtende psychiatrische Definitionsmacht in Wölflis Fall nicht hinterfragt? Sicher ist, dass die vorausgesetzte Geisteskrankheit Wölflis Werk zum hermetischen Objekt der Kunstbetrachtung ausgegrenzt. Das Werk des Geisteskranken darf als unhinterfragbar hermetisch und damit als stumme Projektionsfläche genommen werden, als Spiegel, der selber nichts ist, aber jegliche Selbstbespiegelung zulässt. Paradigmatisch führte 1986 Adolf Muschg diesen Trick mit folgendem Vers an Wölfli vor: «Jetzt / können wir beginnen ihn zu lesen / denn der Schlüssel zu ihm / ist so verloren / wie wir». Dass der Schlüssel zur Hermetik des Geisteskranken für verloren erklärt wird, erlaubt die narzisstische Pointe, auch «wir» seien verloren (was ja vermutlich heissen soll, dass der dichtende ETH-Professor mindestens so verloren sei wie der lebenslänglich internierte Emmentaler Handlanger. «Ebjä!» [für «eh bien»] würde Wölfli hier wohl sagen.) Muschg ist kein Einzelfall. Im zeitgenössischen Literatur-, Kunst- und Musikschaffen dient Wölfli immer wieder als Projektionsfläche, um eigene Verlorenheiten (mit) zu beschwören. Wie Wölfli Wörter schreibend seine Musik darstellte, arbeiten heute Künstler und Künstlerinnen mit Wölfli als Material, um sich selber darzustellen. Dazu dient der hermetische Spiegel einer individuellen «Geisteskrankheit» besser als zum Beispiel die Auseinandersetzung mit einem sich zeitlebens gegen nicht lebbare Lebensumstände wehrenden kleinen, hässlichen Mann.

«Vertreibt sich die Zeit mit Zeichnen.» – Spoerri widersprechend behaupte ich, Wölflis Werk sei nicht Antwort auf seine Krankheit, sondern Antwort auf seine lebenslängliche Internierung. Vergessen wir für einen Augenblick das psychiatrische Apriori: Zu Beginn der neunziger Jahre ist Wölfli in einer Lebenskrise: Es ist ihm trotz verschiedener Versuche nicht gelungen, seine lebenslange soziale Randständigkeit zu durchbrechen, er hat weder Freunde noch Bekannte, die Beziehungen zu  Frauen sind auseinandergegangen, er vereinsamt, wird sexuell gewalttätig gegen Kinder. Er wird erwischt und schliesslich als Wiederholungstäter in die «Waldau» versorgt. Als unsteter Herumtreiber und sogenannter «Kinderschänder» muss er wissen, dass er damit erledigt ist. Dies zu wissen und dies zu akzeptieren allerdings war zweierlei: Jahrelang wollte es ihn fast zerreissen. Er war unberechenbar gewalttätig und wurde in eine Einzelzelle gesperrt. Im September 1899, so berichtet Morgenthaler, habe Wölfli in seiner Zelle eines Tages plötzlich seinen Nachtstuhl in Stücke gehauen. Dann schlug er «mit den Trümmern die Zellentüre ein, stürzte auf den Korridor und zertrümmerte dort ein Fensterkreuz mit allen Scheiben; dann blieb er plötzlich stehen, ohne die günstige Gelegenheit zum Entweichen zu benützen». Wölfli steht am Fenster, blickt hinaus und sieht draussen für sich keine Welt mehr. Zwei Monate später vermerkt die Krankengeschichte erstmals: «Vertreibt sich die Zeit mit Zeichnen.» – Das psychiatrische Apriori macht Wölfli zum Träger einer diffusen, chronischen, schleichend sich verschlimmernden Krankheit, natürlich erblich bedingt und irgendwie endogen. Ich schlage dagegen vor, Wölfli als ein in Not Geratener zu sehen, bei dem sich gewisse Krisensymptome durch soziale Ausgrenzung und psychiatrische Einschliessung chronifiziert haben. Oder anders: Als Wölfli für sich akzeptiert hatte, dass es für ihn keine äussere Welt mehr geben würde, hat ihn die Suche nach einer inneren gezwungen, jene Grenze endgültig zu überschreiten, mit der die gesellschaftliche Konvention den Verstand vom Irrsinn trennt. Dieser «antipsychiatrische» Ausgangspunkt der Wölfli-Rezeption würde es erlauben, Wölflis Werk als Widerstehen eines Menschen zu sehen, der trotz seiner sozialen Liquidation, trotz dem verordneten kommunikativen Tod leben und reden wollte. So wird der Kosmos von «Skt. Adolf II» zur auch heute verbindlichen Anklage gegen die menschenvernichtende Welt des gesunden Menschenverstands, über deren Scheibenrand hinaus seit Wölflis Absturz Hunderttausende gestossen worden sind.

«Das Menschen=Alter: Marsch=Stooss No. 102-105, 72,2 x 100,2 cm, 1915.» – Entlang beider Ränder des querformatigen Blatts sind Vignetten gezeichnet mit Gesichtern. «10 Jahr ein Kind», «20 Jahr ein Jüngling» etc. Dazwischen fünf horizontale Notenliniensysteme, auf denen zwischen einer verwirrenden Vielfalt nicht deutbarer grafischer Zeichen, Zahlen, Schraffuren, Kreuzen und symbolisierten «Vögeli» klobige Notenköpfe einer vierstimmigen Musik eingetragen sind: unentzifferbar. Im Aufsatz «Parataxis» zur späten Lyrik von Friedrich Hölderlin spricht Theodor W. Adorno von der «Gefahr der Sprache», «an ihr kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren Wahrheitsgehalt zu verhökern». Sprache – ob verbale oder musikalische – ist mehr und anderes als Kommunikation. Kommunizierende Sprache ist immer schon instrumentell zugerichtet. Wer kommuniziert, setzt Sprache strategisch ein, will mit Sprache über die Sprache hinaus etwas erreichen. Vorab in ausgegrenzten Bezirken wie der Poesie oder dem Irrsinn gibt es jedoch ein nicht-kommunikatives, aussersoziales Reden. Diese neue Sprache hatte Wölfli in seiner Zelle zu lernen; mit der Zeit redete er sie verbal, musikalisch und bildnerisch. Sie war nicht Kommunikation, sondern Selbstvergewisserung, Überlebensmonolog, Reden gegen innen. Wie anders hätte Wölfli 35 Jahre lang im Irrenhaus leben können? Darum sind die Wölfli-Partituren im Berner Kunstmuseum stumm: Die Musik, auf die sie verweisen, war nie als akustisches Phänomen gedacht. Sie tönte in Wölfli, sie verstummte mit ihm endgültig. Die Partituren zeugen davon, dass an den Rändern der Gesellschaft das Reden erst anfängt, wenn das Rauschen der Kommunikation aufhört hat. Mit der Sprache lässt sich alles kommunizieren, nur ihr Wahrheitsgehalt nicht. Dass Wölfli das wusste, hat mit seiner Geschichte, nicht mit Geisteskrankheit zu tun.

Unter Verwendung von:

• Walter Morgenthaler: Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölfli, Wien-Berlin (Medusa Verlag) 1985 (Erstausgabe: 1921).

• Elka Spoerri (Hrsg.): Der Engel des Herrn im Küchenschurz – Über Adolf Wölfli, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 1987. 

• Elka Spoerri et al.: Adolf Wölfli. Dessinateur – Compositeur, Fond. Adolf Wölfli (Lausanne) 1991.

• Adolf Wölfli: Von der Wiege bis zum Graab – Schriften 1908-1912, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1985. (Hier findet sich auf Seite 16 das als Motto gesetzte Wölfli-Zitat.)

• Adolf Wölfli: «Geographisches Heft No. 11», Schriften 1912-1913, Stuttgart (Hatje) 1991.

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 93-100. (Dokumentiert wird die Buch-Version.)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5