Eine ganz spezielle Schizophrenie

Wenn man vom Bahnhof Burgdorf her die Kirchbergerstrasse auswärts Richtung Autobahn geht, findet sich gleich links eine kleine Migrol-Tankstelle. Einige Schritte weiter, rechts, eine Coop-Tankstelle. Dann, wieder links, mit der «Central-Garage» die offizielle Alfa-Romeo-Vertretung am Ort. Kurz danach rechts eine BMW-Garage mit Migrol-Benzin. Danach hintereinander die «Buchmatt-Garage» – Subaru mit BP-Benzin –, eine Tamoil-Tankstelle und schliesslich die «Auto AG Burgdorf», eine Toyota-Garage mit Agip-Benzin: rundherum parkierte Autos, eine Werkstatt, ein kleines Ersatzteillager, daneben der Schauraum mit zwei neuen Modellen, makellos glänzend im Kunstlicht; und wenn man eintritt, kommt aus dem kleinen Büroraum im Hintergrund lächelnd ein 55-jähriger Mann mit einem kleinen Metallschildchen am Pullover, «TOYOTA/Benjamin Gutknecht»; im Autogewerbeverband Sektion Emmental Oberaargau ist er als Vorstandsmitglied Kassier, hier ist er der Herr im Haus.

Nichts geht mehr kaputt

«Wissen Sie, das sind Fantasien», sagt Gutknecht, jetzt an seinem Schreibtisch sitzend, wenn er von der Veranstaltung spricht, die er zwei Tage zuvor im Hotel Stadthaus besucht hat. Dort haben Beat Ringger vom Initiativkomitee, Hans Kaspar Schiesser vom VCS und die jungliberale Stadträtin Christa Markwalder, Tochter eines hiesigen Bauingenieurs, die Umverkehr-Initiative verteidigt gegen den SVP-Nationalrat Simon Schenk, einen Funktionär des Schweizerischen Gewerbeverbandes und einen Garagisten. «Der Clou war», ärgert sich Gutknecht, «dass sie sagten, mit dieser Initiative entstünden neue Arbeitsplätze. Es gäbe in den Dörfern draussen wieder kleine Läden, weil die Leute nicht mehr in den Grosszentren einkaufen gehen würden. Für mich ist das ein kompletter Widersinn. Würde die Initiative angenommen, gäbe es einen Haufen Arbeitslose. Welcher Chauffeur geht denn plötzlich in ein Lädeli Stumpen und Kaugummi verkaufen?»

Eigentlich hat Gutknecht ganz andere Sorgen als die Volksinitiative, die die Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs innerhalb von zehn Jahren will. In der Autoindustrie gibt es weltweit Überkapazitäten, man spricht von vierzig Prozent. Unter den Grossherstellern herrscht ein enormer Konkurrenzkampf: also ein Kampf um möglichst grosse Stückzahlen der einzelnen Marken, was die Produktion verbilligt und in einer zweiten Phase wegen der Unfälle und des Verschleisses das Ersatzteilgeschäft attraktiv macht; Kampf aber auch um möglichst billige Produktionsstandorte: 1996 wurden beispielsweise in Deutschland bereits 12 Prozent der Neuzulassungen deutscher Fabrikate im billigen Ausland produziert. Man baute zu viele Autos, die verkauft werden müssen. Die produzierenden Konzerne setzen den Zwischenhandel unter Druck, die Importeure geben ihn weiter an die Garagen. Ein Viertel der Toyota-Garagen, sagt Gutknecht, verkauften gerade fünf Prozent der Autos. Hier setze der Importeur Umstrukturierungen durch, indem er die Margen drücke, und neu gebe es nun ein Margensplitting: Mehr erhalten die, die mehr Autos verkaufen. Natürlich wisse die Kundschaft um die Situation der Garagen: Kaum ein Auto werde heute verkauft, um dessen Kaufpreis nicht gefeilscht worden sei, ohne Rabatte laufe meist gar nichts mehr.

Und dann die Arbeit in der Werkstatt: Als er 1974 die Garage übernahm, habe man gerechnet, für 125 Kunden brauche es einen Mechaniker: «Damals machte man alle 5000 Kilometer einen Service, zu Beginn sogar alle 2500. Heute rechnet man etwa 450 Kunden pro Mechaniker, es gibt noch alle 15000 Kilometer einen kleinen und alle 30000 Kilometer einen grossen Service. Es geht nichts mehr kaputt. Die Schmiereigenschaften, die Öle, die Materialien werden immer besser. Wir werden noch die Zeit erleben, in der man alle 100000 Kilometer einmal das Öl wechselt.» Ausgebaute Ersatzteillager und die immer teureren, zur Reparatur notwendigen elektronischen Geräte rentieren nur noch für die grösseren Unternehmen der Branche. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre ging die Beschäftigung im Auto-Reparaturgewerbe um drei Prozent zurück. Man schätzt, dass in der Schweiz in den kommenden Jahren zehn Prozent, das heisst zwischen 500 und 10000 Garagen eingehen werden.

Eine 150-Prozent-Stelle

Vor diesem Hintergrund spricht viel für die These, dass die Autobranche von den Fabriken über die Zulieferbetriebe bis zu den Reparaturwerkstätten in der heutigen Form sowieso nicht mehr zu retten ist – ganz abgesehen von der Umverkehr-Initiative. Aber eine solche Analyse nützt Gutknecht nichts. Auf die Frage, wie ein Garagist heute überhaupt noch Geld verdiene, sagt er: «Indem er einen Haufen selber macht. Vor Jahren haben mich andere Garagisten ausgelacht, weil ich auch damals jeden Samstag arbeitete. Ich habe ihnen gesagt: ‘Es wird eine Zeit kommen, in der ihr wieder bereit sein werdet, am Samstag zu arbeiten.’ Heute sind wir so weit.» Ein solcher Kleinbetrieb, wie er ihn führe – drei Mann plus ein Chef in der Werkstatt, dazu ein Verkäufer, dazu die Ehefrau und der Schwiegervater, die im kaufmännischen Bereich mitarbeiten –, gehe hundertprozentig sicher kaputt, wenn der Garagist sich nicht auch abends und an den Samstagen um die Kundschaft bemühe. Jede Toyota-Garage verkaufe die gleichen Autos, deshalb entscheide das Persönliche.

Er zitiert Robert Lembke, der einmal gesagt habe, der Grund, dass einer selbständig werden wolle, sei der, dass er bereit sei, sechzehn Stunden für sich zu arbeiten, damit er nicht acht für einen anderen arbeiten müsse. Seine Frau habe ausgerechnet, dass er im letzten Jahr ein halbes Jahr Überzeit gemacht habe. Er sei auch am Sonntagvormittag oft hier: «Wenn wir nicht irgendwohin gehen, so spaziere ich im Trainingsanzug hierher und arbeite zwei, drei Stunden. Ungefähr alle zwei Wochen nehmen meine Frau und ich im Ausstellungsraum und im Büro die Böden feucht auf und putzen die Schaufenster.» Kinder hätten sie leider keine. So sei die Garage ihr Kind geworden.

Was ihn freut, ist die gute Stimmung im Betrieb: «Wir arbeiten von halb acht bis zwölf und von halb zwei bis viertel vor sechs. Manchmal, wenn ich um viertel nach eins vom Mittagessen komme, sind sie bereits wieder am Arbeiten. Wenn ich dann sage: ‘Jetzt spinnt ihr aber’, so sagen sie bloss: ‘Wir gehen dann abends auch rechtzeitig.’ Und morgens um zehn vor sieben ist der erste bereits wieder hier und beginnt, die Autos hinauszustellen und Licht zu machen: ‘Weisst du, ich konnte sowieso nicht mehr schlafen.’»

Einmal spricht Gutknecht von seiner Verantwortung: «Es ist ja nicht zu meiner Selbstbefriedigung, dass ich so viele Stunden hier in der Bude verbringe. Ich habe Mitarbeiter, die Familienväter sind, die kleine Kinder haben. Ich habe zwei Mitarbeiter mit 29 und 30 Dienstjahren. ich habe eine Verantwortung für diese Personen. Ich muss schauen, dass wir in der nächsten Zeit überleben können, damit ich die Arbeitsstellen halten kann. Das ist meine Hauptaufgabe hier.»

Dagegen schreibt Beat Ringger in einem Aufsatz: «Nicht die Verkehrshalbierung, sondern das Festhalten an überholten Strukturen gefährdet langfristig Arbeitsplätze.» Er spricht von «sustainable mobility» – nachhaltiger Mobilität – und von der Notwendigkeit, in diesem Bereich Innovation und Nachhaltigkeit zu kombinieren. Beispiel öffentlicher Verkehr: Investiertes Geld in diesem Bereich bringt doppelt so viele Arbeitsplätze wie im Strassenverkehr. Beispiel Auto-Fahrgemeinschaften: Die Firma «Mobility» sei heute mit rund 30000 Mitgliedern und 1000 Autos an 700 Standorten weltweit das grösste Car-Sharing-Unternehmen und erfülle Beratungsaufträge bis nach Singapur – auch zur Bereitstellung und Wartung der «Mobility»-Flotte brauche es ein Autogewerbe. Beispiel Elektroautos oder Elektrovelos: Was die Innovation in diesem Bereich betreffe, stehe die Schweiz zurzeit ausgezeichnet da. Mit Produkten wie «Twike» oder «Flyer» bestünden «die besten Voraussetzungen für ein authentisches Schweizer Job- und Wirtschaftswunder».

Autos für die Rucksackbauern

Gutknecht ist skeptisch: Dieser Markt wäre in Burgdorf «allenfalls für eine Garage eine Chance, für eine einzige». Ringger seinerseits zitiert eine neue Studie des Basler Prognos-Instituts, die festhält: «nachhaltige Mobilität bringt mehr Jobs als die Fortsetzung der heutigen Auto-Monokultur». Durch den Strukturwandel im Mobilitätsbereich – also durch das Umsteigen auf Bahn, Bus, Velo oder Auto-Fahrgemeinschaften – sparten die Haushalte enorm viel Geld, das anderweitig eingesetzt werden könne. Das führe zu neuen Arbeitsplätzen in praktisch allen Bereichen – Verliererinnen seien lediglich die Versicherungsbranche, die Stahl-, die Maschinen- und die Autoindustrie.

Mögen diese Argumente noch so vernünftig klingen, die Existenz des Garagisten Benjamin Gutknecht bedrohen sie. Ihn ärgert zum Beispiel eine junge Frau wie diese Christa Markwalder, «die sich auf Kosten der Steuerzahler ausbilden lässt und ihnen danach sagen kommt, wie sie sich verhalten sollen». Respekt hat er dagegen vor den Rucksackbauern «im Horeb obe», «die ein oder zwei Chueli haben, was aber nicht reicht für die Familie, die darum beispielsweise jeden Tag in die Maschinenfabrik Aebi nach Burgdorf herunterkommen, um Geld zu verdienen, abends um fünf Feierabend haben und danach zu Hause den Stall machen und am Morgen melken, bevor sie wieder herunterkommen. Hut ab vor denen. Die brauchen aber das Auto, damit sie hin- und herfahren können, sonst können sie ihre Arbeit nicht mehr machen.» Nun hätten sie zwar an der Veranstaltung gesagt, solche Leute dürften das Auto natürlich behalten. Wer denn aber in diesem Fall das Auto überhaupt abgeben müsse? Und wie man es zum Beispiel im Tourismus halten wolle: Ob die ausländischen Feriengäste ihr Auto an der Grenze stehen lassen müssten?

Gegen Schluss sagt Gutknecht, «in gewissen Fragen» sei er «in einer Schizophrenie drin»: «So kann es ja auch nicht weitergehen. Was machen wir, wenn sich der Verkehr noch einmal verdoppelt? Wie kann man sich denn dann noch bewegen?» Aber das sei eben nur die eine Seite. Wenn er es auf der anderen Seite von seinem Geschäft her betrachte, «dann müssen wir mindestens so viele Autos verkaufen können, wie wir in den letzten Jahren verkauft haben, sonst gehen wir kaputt». Nach dem Gespräch hat es der Journalist aus Bequemlichkeit nicht abgelehnt, sich vom Garagisten durch die Kirchbergerstrasse zurück an den Bahnhof Burgdorf chauffieren zu lassen.

 

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Der Toyota-Importeur

 

Der Preis- und Margendruck, von dem Benjamin Gutknecht erzählt, wird vom Toyota-Importeur Walter Frey ausgeübt. Der heutige Nationalrat am Blocher-Flügel der SVP hat Ende der sechziger Jahre von seinem Vater die «Emil Frey AG für Fahrzeuge und Zubehöre» übernommen und mit durchschlagendem Erfolg die damals noch völlig unbekannten «Toyota»-Autos lanciert. Diese Marke bildet bis heute das Rückgrat seiner Firma. Inzwischen ist das Geldverdienen aber auch für Frey härter geworden. Nicht nur die Händler, sondern auch Importeure wie Frey stehen unter dem Druck der Produzenten, die den Zwischenhandel aus dem Markt zu drängen versuchen. So hat Frey im letzten Jahr die Vertretung von Chrysler und Jeep – 180 Millionen Franken oder knapp zehn Prozent des Inland-Umsatzes – an Mercedes-Benz Schweiz verloren. Da muss man den Druck schon nach unten weitergeben, will man auch in Zukunft einer der hundert reichsten Schweizer bleiben.

Die eidgenössische Volksinitiative «für die Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs zur Erhaltung und Verbesserung von Lebensräumen (Verkehrshalbierungs-Initiative)» ist in der Abstimmung vom 12. März 2000 mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 21,3 Prozent (415605 zu 1532518 Stimmen) abgelehnt worden. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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