Wir Himmelwracks

Heute abend Treffen der Berner WoZ-MitarbeiterInnen in der Brasserie Lorraine. Nach dem gemeinsamen Abendessen (Lauchkuchen und Salat) diskutieren wir unter anderem über den Begriff «Alltagskultur», ausgehend von einem internen Arbeitspapier aus dem Jahr ’85, wonach die WoZ durch «Herstellung von Identität zur Stärkung der Gegen-Kultur (‘unserer’ Kultur)» beitragen solle. Schöne, grosse, hohle Worte, die sich sehr oft nicht mit der journalistischen Praxis verbinden wollen. Man kann den «Kultur»-Begriff fassen wie man will: Hier und heute ist jede denkbare Kultur, die Öffentlichkeit erlangt, sofort in erster Linie «ihre» Kultur. Wir dagegen sind fortwährend auf der Suche nach «unserer» Kultur ausserhalb «ihrer» Kultur, ausserhalb der allumfassenden Kulturproduktionsmaschine als Teil der Herrschaftsmaschinerie. Ausserhalb dieser Maschine ist aber nicht eine fixfertige Gegen-Kultur, sondern nichts. Liliane sagt: «Nur aus unsere Leere kann sich etwas Neues entwickeln.» Unsere Leere ist hier und heute unsere Kultur. (Und «unsere» Kulturschaffenden? Sie müssen versuchen, wollen sie Öffentlichkeit, sich «ihrer» Maschine zu bedienen.)

«Unsere» Leere macht «uns» Angst. Darum ist «ihre» Kultur der Orientierungspunkt «unserer» Arbeit. Auch nach der letzten WoZ (4/87) glaube ich zum Beispiel nicht, dass die WoZ-Redaktion ein larmoyanter Haufen frustrierter Möchte-gern-Tagi-Journalisten ist. Aber: Erich Schmied erzählt von Repression gegen Recherchierjournalismus (beim Tagi). Niklaus Meienberg sagt’s wieder einmal seinem Leibfeind Peter Studer (vom Tagi). Oskar Scheiben referiert die Ablehnung eines Anti-Apartheid-Inserates (durch den Tagi), Jürg Frischknecht schreibt über «Sonntags-Blatt» und «SonntagsZeitung» (Tagi), Helmut Scheben spricht von der amerikanischen Desinformationskampagne gegen Nicaragua und zitiert Roman Berger (aus dem Tagi). Jeder Text für sich würde nicht weiter auffallen (hat auch seine Berechtigung). Aber die Häufung von Geschichten, die sich als WoZ-Geschichten legitimieren, indem sie auf das bürgerliche Kulturprodukt Tagi Bezug nehmen, respektive es thematisieren, zeigt «unser» Dilemma: Journalistisches Thema wird uns vorab, was «uns» in «ihrer» Kultur spiegelt (Ideologiekritik ist eben mehr und anderes als eine keimfreie linke Tugend.) Ohne «sie» sind «wir» nichts. So scheint es.

Was wollen wir eigentlich? Die Welt ist überstellt von «ihren» Baustellen, «ihren» Kriegsschauplätzen. Wir hetzen «ihrer» Welt mit einer Runde Rückstand hintendrein und schreien die Wahrheit, nichts als die Wahrheit in den Wind. Aber es gibt keine Wahrheit, ausser man hat ein Interesse an ihr. Wahrheit ist nicht, man muss sie machen. Sie ist keine Frage der «reinen» Erkenntnis, sondern eine des zielgerichteten gesellschaftspolitischen Interesses. Wer nichts erreichen will, braucht keine Wahrheit (wer nicht handelt, hat keine). Umgekehrt: Wir haben nur dann etwas zu sagen, wenn wir es auf ein Ziel, auf eine Utopie hin sagen.

Natürlich würden wir das öffentlich rigoros abstreiten: Wir reden vom Sozialismus wie die Pfaffen vom lieben Gott: Im Bewusstsein, davon zu leben, dass das Ziel ein unwiderlegbares Gerücht bleibt.

Heute abend fragt Marie-Josée: «Hat Aufklärung noch Sinn? Warum klären wir auf? Wer fühlt sich noch betroffen?» Auch ein Tabu. Vermutlich müssen wir wirklich immer wieder versuchen, die Welt neu zu erklären. Aber man muss doch eine halbwegs vernünftige Antwort wissen auf die Frage: Wozu? Was hierzulande als Aufklärung gilt, ist – auch – ein Gesellschaftsspiel: 20’000 Linke (mehr sind «wir» ja wohl nicht) stehn im Kreis und spielen Aufklärung. Die Spielregel lautet: Alle klären fortwährend alle auf. Wer aber das Sprachspiel des Marx-bis-Habermas-Jargons mit einem falschen Wort beschädigt, muss eine Runde aussetzen. Dann lachen alle, oder sie schütteln den Kopf. Daneben sind alle froh, dass alle so tun, als merkten sie nicht, dass beim Ringelreihenspielen das Schritte-Machen und der Selbstbetrug ziemlich identisch sind.

Hierzu müssten wir unseren besten Schreiber, Niklaus Meienberg, befragen! Geht nicht auch er zunehmend im Kreis? Seit zwei, drei Jahren pflegt er nun hauptsächlich die Kopp-Muschg-Studer-Wagner-Connection. Mit alttestamentarischem Pathos bricht er als Don Quichotte seine Lanzen an den Aushängeschildchen und Abziehbildchen des (Zürcher) Establishments (die WoZ dient als Rosinante). Wogegen Meienberg in gloriosem Galopp anrennt, verstehe ich. Unklar ist mir: Wozu? Allerdings hat Brecht vom Revolutionär gesagt: «Und wo Unterdrückung herrscht und von Schicksal die Rede ist/ Wird er die Namen nennen.» Aber es ist ein Unterschied, ob einer Geschichten erzählt, um (prominente) Namen nennen zu können (um sich in ihnen spiegeln zu können!) oder ob er Namen nennt, um Geschichten (aus einer aufklärenden Perspektive) erzählen zu können.

«Alltagskultur». Die Ängste vor der Leere, über die wir nicht reden. Die schmerzhafte Ortlosigkeit, die wir nicht eingestehen. Die Sehnsucht, auch einmal dazuzugehören, für die wir uns schämen. Die Sprachlosigkeiten, wo wir doch wissen, dass wir die Welt jederzeit erklären können müssen. Die nächtlichen Schweissausbrüche, die ich mir durchaus nicht erklären kann: Wo ich doch auf der richtigen Seite stehe. Aus lauter Verzweiflung machen wir an melancholischen Abenden manchmal böse Gesichter, stellen trotzig die Gewaltfrage, später –weinselig-kühn – haben wir auch die Machtfrage sozusagen im Griff. Bloss, GenossInnen, was täten wir mit der Macht? (Warum singen wir keine Lieder mehr?)

Kurz nach zwölf verläuft unsere Diskussion im Schweigen. Sie war spannend. Die letzten Busse sind längst gefahren. Trotzdem ist niemand vorzeitig aufgebrochen. Wir wissen für heute nicht weiter. Es war ein guter Abend.

Heute nachmittag übrigens Spaziergang durch Bern in die Elfenau: Die russische Botschaft ist eingefasst von einer hohen grauen Mauer, überwacht von Videokameras. In der Mauer eine schmale, verschlossene Tür, drauf ein Schildchen: «PRIVAT». Wenn sie mindestens «VOLKSEIGENTUM» draufgeschrieben hätten.

Heute morgen bei Paul Celan gefunden: «Mit erdwärts gesungenen Masten / fahren die Himmelwracks».

Dieser Text wurde am 27. Januar 1987 abgeschlossen und war für die Rubrik «Politisches Tagebuch» der WoZ vorgesehen. In der Redaktion ist der Text kritisch gegengelesen und unter der Frage diskutiert worden: «Ist es legitim, den besten Schreiber, der notabene eben durch einen persönlich gezeichneten Werbebrief 2000 Neuabonnenten gewonnen hat, im eigenen Blatt zu kritisieren? Kann man andererseits einen Redaktor zensurieren? Die umstrittene Passage [der hier dokumentierte Abschnitt «Hierzu müsste man…», fl.] wird schliesslich gestrichen.» (vgl.: Marianne Fehr: Meienberg. Lebensgeschichte des Schweizer Journalisten und Schriftstellers, Zürich [Limmat-Verlag] 1999, 366 ff.)

Meine Handnotizen zu den damaligen Ereignissen belegen, dass am 27. Januar, kurz nachdem ich meinen Text von Bern nach Zürich gefaxt hatte, das Telefon heiss gelaufen ist. Zuerst rief Meienberg an. In der irrtümlichen Annahme, er habe meinen Text bereits gelesen, sprach ich ihn darauf an. Weil er ihn noch nicht kannte, musste ich ihn ihm vorlesen: «Diskussion. Er hängt ab.» Später meldete sich für die Redaktion Oskar Scheiben, verteidigte Meienberg, sagte, ich würde alles in einen Topf werfen, ich betriebe Fertigmacherei, es gehe auch um die finanzielle Zukunft der Zeitung. Dann rief wieder Meienberg an, er habe mir einen Brief geschrieben, verlangt die Büroadresse. Dann Lotta Suter: Mein Text verstärke ein einseitiges Meienberg-Bild, beim jetzigen Stand der Diskussion in Zürich sei der umstrittene Abschnitt gestrichen. Meienbergs Brief tags darauf beginnt: «Lieber Lerch/ wie wärs mit einer Reportage Deinerseits, die einmal voll in die gesellschaftlichen Zustände hineingreift? […] Fabriken etc.? Wieviele Büchsen mit Scheiss-Dreck hast Du bekommen? Wieviele anonyme Briefe? Wieviele Morddrohungen? (Tel.) Ich dreh mich also im Kreis. Tja! Und Du? Du bist ja auch Journalist. Wie oft hast Du über den literar-politischen Gartenzaun hinausgegrast? Wie oft etwas riskiert?»

Wegen des entstandenen Konflikts (ich stellte mich in der Folge auf den Standpunkt, von meiner eigenen Redaktion zensuriert worden zu sein) wurde die Zusammenarbeit zwischen der WoZ-Hauptredaktion und der Aussenstelle Bern in den nächsten Monaten schwierig. Urs Frieden und Marie-Josée Kuhn, mit denen ich damals in Bern zusammengearbeitet habe, danke ich: Sie haben einige der Prügel abgekriegt, die mir gegolten haben.

Sämtliche Unterlagen der WoZ-Aussenstelle Bern zu diesem Konflikt (auch meine hier erwähnten Handnotizen) liegen seit 2006 in Niklaus Meienbergs Nachlass (Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, Dossier «Meienberg-WoZ 1987-1991», Signatur: D-6/23). Dargestellt ist der Konflikt auch in: Marianne Fehr: Meienberg. Zürich (Limmat) 1999, S. 366f. – Zu den beiden Zitaten in der Kolumne «Wir Himmelwracks» vgl.: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1976, Bd. 9, S. 692; Paul Celan: Gesammelte Werke. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1986, Bd. 2, S. 20.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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