Von der Zahnpasta

Letzthin ist es mir passiert, dass ich beim Frühstück die Zeitungslektüre unterbrochen habe. Ich stürzte ins Badezimmer, holte die Zahnpasta, legte sie neben die Zeitung auf den Küchentisch, fixierte beides scharf und fragte mich: Gibt es einen Unterschied, ja oder nein? Eigentlich nein, dachte ich unwillkürlich: Mit der Paste verkleistere ich mir den Mund, mit der Zeitung das Gehirn, damit ich sozialverträglich funktioniere, wenn ich den Mund aufmache.

Aber darum ging es jetzt nicht, es ging um die Unesco-Vollversammlung, über die ich eben folgendes gelesen hatte: Am 20. Oktober hat sie in Paris die «Konvention zum Schutz kultureller Vielfalt» verabschiedet. 146 Länder stimmten dafür, die USA (und Israel) dagegen. In der Debatte hätten die USA versucht, den Begriff «Kultur» mit «Entertainment» zu ersetzen und den «Entertainment-Markt» der vollständigen Liberalisierung zuzuführen. Die verabschiedete Konvention sieht nun aber vor, dass kulturelle Produkte von den Regeln des Welthandels auszunehmen seien und die einzelnen Nationen Quoten festlegen können, um ihre eigene Kultur «gegen Vereinheitlichung und Standardisierung» zu schützen. Die US-Verhandlungs-delegation habe die Konvention deshalb als «fehlerhaft, zwiespältig und protektionistisch» abgelehnt.

Bis hierher hatte ich, meinen Grüntee löffelnd, mit Wohlgefallen gelesen. Schadenfreudig dachte es mir: «Kampf dem Kulturimperialismus!» – zerknirscht gleich darauf: «Aber so denken wir doch heute nicht mehr!» Ich tastete kurz nach meinem inneren Gleichgewicht, nahm mir erneut den Zeitungsartikel vor und rief, wie gesagt, zwei Sätze später nach der Zahnpasta. Denn man könne sagen, las ich, «der Entscheid bedeute Protektionismus. Aber er zielt nicht einfach auf den Warencharakter der Kultur. Kultur ist, man muss diese Banalität aussprechen, mehr als eine Ware.»

So ein Quatsch! Eine Banalität ist es vielmehr, dass auch kulturelle Waren nichts anderes sein können als Waren – dass aber jede Ware, nicht nur die kulturelle, mehr ist als ihr Tauschwert. Dieses Mehr hat ein brillanter Berufskollege schon vor einiger Zeit als «Gebrauchswert» bezeichnet. Man muss diese Banalität aussprechen: Auch kulturelle Waren haben einen Gebrauchswert, wenn auch nicht einen derart handfesten wie zum Beispiel ein Hammer oder eine Sichel.

Die Mehrheit der Unesco-Vollversammlung hat ihren Entscheid für die Konvention denn auch mit einem Gebrauchswert begründet, nämlich mit dem «symbolischen und identitätsstiftenden Wert» kultureller Hervorbringungen. In der Unesco versteht man unter einem Kulturprodukt demnach eine ganz normale Ware, deren nationaler Schutz aus Gründen eines Gebrauchswerts unverzichtbar notwendig sei.

An diesem Punkt bin ich am Küchentisch ins Nachdenken gekommen:  Wenn die US-amerikanische Verhandlungsdelegation von «Protektionismus» sprach, traf sie die Sache demnach exakt. Warum steht die Mehrheit der Unesco-Vollversammlung nicht dazu und verteidigt ihre richtige Politik mit falschen Argumenten? Klar, will man etwas erreichen, sollte man sich gegenüber US-Amerikanern nicht offen gegen das Marktdogma stellen…

Plötzlich begriff ich: Die Mehrheit der Unesco-Vollversammlung hat die Amerikaner mit einer diplomatischen List aufs Kreuz gelegt! Nämlich: Die Delegationen aus aller Herren Länder deckten jene Amerikas derart mit dem Geschwurbel von der metaphysischen Über-Warenförmigkeit von Kulturprodukten ein, dass diese in den Hollywood-Filmen und Country-CDs selber ihren lieben Gott raunen zu hören wähnten, um Vergebung für ihre neoliberale Primitivität zu beten begannen, und noch vor dem Amen waren sie niedergestimmt. Ein Hoch auf die Diplomatie!

So ist mit dem Schwachsinn, ein Kulturprodukt – zum Beispiel eine Zeitung – sei als Ware qualitativ etwas anderes als eine Tube Zahnpasta, eine Supermacht gebodigt worden. (Übrigens gibt es tatsächlich einen Unterschied zwischen Zahnpasta und Zeitung: Er liegt im Preis.)

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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