Von wegen selbstlos aufklärende Journalisten und Journalistinnen! Achtzig Prozent der Zeitungsartikel, die sie mit ihrem Namen zeichnen, sind nichts als umredigierte Pressemitteilungen aus den PR-Abteilungen von Behörden, Institutionen, Parteien und Verbänden! Schurnis sind verkommen zu den «Ghost-writern der PR-Branche», und «PR-Input ist das kostengünstige Grundrauschen des Medienalltags» (Karl Lüönd, «Werbewoche», 41/05). Die luschesten Vögel der Branche sind dabei die «Freien»: Bei ihren Honoraransätzen können die sich seriösen Journalismus von vornherein nicht mehr leisten.
Wie recht er doch hat, der Kommunikationswissenschaftler Stephan Russ-Mohl von der University of Lugano, der am diesjährigen «comedia»-«Tag der Freien» Klartext geredet hat: Auch die «Freien» sind Täter, nicht Opfer! Schurnis machen allesamt weder neutrale Informationsvermittlung noch kritische Analyse, sie sind weder Anwältinnen ihres Publikums oder gar Diener am Gemeinwohl, sondern sie handeln – huch! – rational und an Eigeninteressen orientiert (siehe «m», 12/05). Auch wenn Belehrungen durch einen wohlbestallten Professor bei der Missgunst der Erfolglosen, die als «Freie» zunehmend um das berufliche Überleben schreiben, als Zynismus ankommen könnte: Wo Russ-Mohl recht hat, hat er recht.
Nur sagt er nichts Neues. Um herauszufinden, dass Geld die Welt regiert, muss man ja weder Forschung noch den Professor machen. Ich zum Beispiel hatte in diesem Punkt nach der Lektüre eines kaum zehnseitigen Essays für dieses Leben ausgelernt. Gelesen habe ich ihn, wie auf dem Vorsatzblatt des Taschenbuchs im Büchergestell in meiner Handschrift vermerkt ist, im August 1976. Fünf Jahre, bevor mein erster Artikel gedruckt wurde.
Der Essay heisst «Warum ich schreibe», stammt aus dem Jahr 1946 und vom Engländer George Orwell, für den Journalismus und Schriftstellerei zwei Aspekte des gleichen Berufs gewesen sind. Als Antwort auf seine Ausgangsfrage skizziert er vier hauptsächliche Schreibmotive. Als zweites nennt er den «ästhetischen Enthusiasmus»: den Sinn für die Schönheit der Wörter, für «die Geschlossenheit guter Prosa oder den Duktus einer guten Erzählung». Das dritte Motiv ist der «Sinn für die Geschichte», was heutzutage ungefähr heissen würde: Das einfallslose Info-Geschnipsel, das immer mehr Tageszeitungen für bsungerbar ausgewogen und fair halten, ist vermutlich doch nicht der unüberbietbar beste Journalismus. Das vierte Motiv: «Politisches Engagement», wobei Orwell, weil Schreiben für ihn eine Kunst war, präzisierte: «Wenn man behauptet, Kunst solle nichts mit Politik zu tun haben, so ist dieses selbst schon eine politische Meinung.» (So sind die Schreibenden über die Zeiten hinweg im Gespräch, hat doch der Schriftsteller Christoph Simon eben letzthin respondiert: «Was hat die Journalistengilde nur immer mit der Politik und den Schriftstellern?» [WOZ, 41/05]).
Das erste Motiv aber, das nach Orwell jemanden zum Schreiben bringt, ist der «reine Egoismus» – wobei «ernstzunehmende Schriftsteller» noch «eitler und egozentrischer» seien «als Journalisten, dafür jedoch weniger an Geld interessiert». Was in etwa heisst: «Schriftsteller» arbeiten vorzugsweise mit kulturellem Kapital und sind deshalb narzisstische Gecken; «Journalisten» dagegen mit ökonomischem, sie sind deshalb penetrante Neureiche (ausser die «Freien», die sind nur penetrant).
So hat George Orwell in einem Essay en passant vorformuliert, womit Russ-Mohl letzthin nach den Regeln der akademischen Kunst ein ganzes Buch gefüllt hat («Der Journalist als Homo oeconomicus», zusammen mit Susanne Fengler, Konstanz 2005). Es wäre doch nett, wenn sich Schurnis – nicht nur «Freie» – öffentlich einmal fragen würden: Wenn es stimmt, dass achtzig Prozent der Zeitungsartikel, die unter meinem Namen erscheinen, nichts als zusammengestückeltes PR-Material ist, warum wechsle ich dann nicht die Branche? (Umso mehr als ein Schurni pro Tag 500, ein PR-Mensch aber 1000 Franken verrechnen kann.)