Vom Plastiklöwen

Daniel Di Falco ist Journalist des «Bunds» und hat am letzten Freitag den BZ-Preis für Lokaljournalismus erhalten, mein Glückwunsch dem Preisträger. Christoph Blocher war bei der Preisverleihung der Festredner und hat die Schurnis aufgemuntert: «Hinterfragen Sie, seien Sie kritisch, misstrauen Sie den Mächtigen und der Macht.» Mein Beileid der Schurni-Zunft.

Als ich am Samstag Blochers Rede las (TA und BZ, 3.12.05), fragte ich mich: Würde er kokett um mehr Kritik an der Macht bitten, wenn er sie nur im geringsten fürchten müsste? Würde jener Mann, der zielstrebig den Sozialstaat in einen umbaut, der die Leute mit weniger sozialem Ausgleich und mehr Repression zur «Selbstverantwortung» zwingen will, tatsächlich so etwas tun? Natürlich nicht. Aber warum kann er sich denn so sicher sein, dass er diese Kritik nicht fürchten muss? Weil es das, was die Schurnis als edelste Legitimation ihrer eigenen Arbeit immer beschwören werden – die «demokratische Öffentlichkeit» – nicht mehr gibt.

Die Öffentlichkeit heute ist ein besetztes Land: an jeder Strassenecke ein Checkpoint, an dem die PR-Privatpolizisten und -Privatpolizistinnen irgendeines gesellschaftlichen Players herumlümmeln. Dort sprechen die Schurnis höflich vor mit der Bitte, exklusive, kritische und ein bisschen subversive Informationen ausgehändigt zu bekommen. Die PR-PrivatpolizistInnen sorgen dafür, dass jede Information, die hinausgeht, mit der aktuellen Interessenlage ihres Brötchengebers übereinstimmt und doch ein bisschen interessant tönt. In der Wirkung hat die Arbeit der PR-Polizeien die «demokratische Öffentlichkeit» im letzten Vierteljahrhundert in einen flächendeckenden, polternden Stammtisch der Uninformiertheit verwandelt.

Zwar war die bürgerliche Schweiz immer nur eine halbe Demokratie, und die hörte schon immer hinter den Fabriktoren auf. Niklaus Meienberg verzweifelte schon in den späten achtziger Jahren daran, hinter diesen Toren nichts mehr ausrichten zu können, weil schon damals die Industriebetriebe PR-mässig derart aufgerüstet hatten, dass kritische journalistische Arbeit nur noch verdeckt möglich gewesen wäre. Aber das war erst der Anfang.

Heute handeln alle denkbaren privaten und staatlichen Player von der Öffentlichkeit abgeschottet und übermitteln via ihren Checkpoint der «Öffentlichkeit» geschönte Selbstdarstellungen und optimistische Faits à complis. Vollständig privatisiert sind sämtliche politischen Prozesse, die dem gesellschaftlichen Handeln dieser Player vorausgehen. Ethisch motivierte Amokläufer, die sich anmassen, an den Checkpoints vorbei die Öffentlichkeit über Entwicklungen zu informieren, die sie früher oder später betreffen werden, tun das genau einmal. Danach sind sie langzeitarbeitlos.

Was bleibt, sind die gezielten Indiskretionen. Sie sind Public-Relations-Massnahmen mit anderen Mitteln. In diesen Fällen wird die PR-Polizei eines Players offensiv tätig, um zu seinen Gunsten Einfluss zu nehmen auf politische Prozesse in anderen privatisierten Räumen. Die Veröffentlichung solcher Indiskretionen gilt in meiner Branche unterdessen als recherchierjournalistische Leistung. Ach ja.

Weitergehender Recherchierjournalismus bedingt zur Umgehung der Checkpoints heute die Bereitschaft, derart weite und unsichere Wege zu gehen, dass kein Medium mehr den absehbaren Aufwand entschädigen wird. Klar ist es jedem Schurni weiterhin freigestellt, selbstverantwortlich seine Geschichten bis an den Punkt zu recherchieren, wo die Widersprüche sichtbar werden. Er muss sich seine Arbeit einfach leisten können. (Ganz im Sinn des Milliardärs Blocher: «Gute Journalisten sind Detektive, Wühler, Unruhestifter.» Yeah.)

Wenn der oberste Herr des Presserechts meine Zunft um mehr Kritik bittet, dann ist das ungefähr so mutig, wie wenn ein Dompteur in der Manege unter grossem Trommelwirbel einem Plastiklöwen den Kopf in den Rachen streckt. Wirklich zum Kotzen aber sind die Generäle dieser Zunft, die ihm am letzten Freitag für das Kunststückchen applaudiert haben.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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