Vom Immergleichen

In der Nähe von Arezzo kenne ich einen Tümpel an einem Waldrand. Dort sitzt sich’s gut. Ab und zu geht ein milder Windstoss durch die Zweige und wendet einen Augenblick später am gegenüberliegenden Hang die graugrünen Blätter der Olivenbäume. Tausendfach blitzen dann jeweils ihre Unterseiten silbrig auf. Manchmal weckt mich dort aus selbstvergessenen Träumen das schlechte Schurni-Gewissen: Abgekabelt und entnetzt sitzt du hier und guckst in die Oliven – und wenn jetzt gerade die entscheidende Geschichte passiert?

Dieser kleine Gewissensbiss nervt. Und ich tröste mich dann jeweils mit einem Erfahrungswert: Noch jedes Mal, wenn ich nach Ferientagen pflichtbewusst die alten Zeitungen durchblätterte, musste ich mir sagen: Ich habe die entscheidende Geschichte nicht verpasst. Zwar überflog ich jeweils das Eine oder Andere mit Interesse, und einige Zeitungsseiten, meist Feuilletonistisches, riss ich zur genaueren Lektüre heraus. Aber eigentlich waren diese Zeitungen auf geradezu verblüffende Art langweilig.

Es gibt aber noch einen zweiten Erfahrungswert: Sobald ich jeweils wieder in den Alltag eintauche, werden die Zeitungsartikel wieder empörend oder belehrend, dumm oder lustig, wie sie es eben gewöhnlich sind.

Diese beiden Erfahrungen fügten sich eines Tages in einem Kunstmuseum zur Einsicht, dass Zeitungen analog funktionieren wie das Robert Walser-Bild von Markus Raetz: Aus der Nähe betrachtet ist es nichts als ein Stück senkrecht laufendes Wellkarton, dessen einzelne Wellen an bestimmten Stellen zu unregelmässigen Kanten zusammengepresst oder flachgedrückt sind. Tritt man aber zurück, findet man im Raum zwei Positionen – eine schräg links, eine schräg rechts – von denen aus das Bild Walsers Dreiviertelprofil zeigt, einmal als Positiv, einmal als Negativ; einmal dunkel im Hellen, einmal hell im Dunklen.

Die Evidenz erschliesst sich also nur dann, wenn man sich um den richtigen Standort zum Werk bemüht, um den richtigen Betrachtungswinkel: Genau wie bei der Zeitung! Und auch diese bietet zwei Standorte an, die die Lektüre zum Vergnügen machen sollen.

• Erstens gibt es einen idealen zeitlichen Winkel zum Text. Journalistische Arbeiten sind so gemacht, dass sie für genau diesen und für keinen anderen Moment verfasst scheinen. Die «Aktualität» kann dabei die grösste Nebensächlichkeit sein, Aktualität ist alles, was es gestern so noch nicht gab und morgen schon wieder vergessen sein wird. Aktualitäten sind journalistische Bojen im Meer der Zeit und signalisieren: Zur Lektüre der Zeitung gibt es nur einen idealen Moment – jenen ihres Erscheinens.

• Zweitens gibt es einen idealen räumlichen Winkel zum Text. Journalistische Texte führen die Lesenden narrativ so, dass möglichst schnell der Eindruck entsteht, hier werde der exklusive Durchblick auf etwas Neues geboten. Als «Primeur» taugt dazu noch die läppischste Nichtigkeit oder ein Potemkinsches Dorf, das zu nichts taugt als zur Kulisse, die die Wirklichkeit verstellt. Primeure sind neu wie Situationskomik Humor ist: Es ist schwierig, sich beim ersten Mal dem Effekt zu entziehen und noch schwieriger, beim zweiten Mal nicht zu gähnen.

Nun ist es aber genau betrachtet nicht so, dass die Zeitungen diese beiden Winkel den Lesenden anbieten – sie erzwingen vielmehr ihre Berücksichtigung als Rezeptionsbedingung (weil man sonst lesend vom Wellkarton der Potemkinschen Dörfer gelangweilt wird). Dieser strukturelle Zwang unterfuttert auf die Dauer das Bewusstsein der Zeitunglesenden mit dem Schein, Aktualität sei bedeutender als jedes Zuvor oder Danach und bringe in jedem Moment das evident Neue. So überzuckert die Verinnerlichung der beiden «Zeitungswinkel» kompensatorisch einen anderen Zwang: den zum Alltagstrott des Immergleichen. Ob der Zeitgeist Ideologiefreiheit verheisst oder nicht, ist unerheblich: Zeitungen produzieren – abgesehen von ihrem Inhalt und der weltanschaulichen Ausrichtung ihrer Kommentare – fortwährend den Schein von Veränderung im Immergleichen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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