Vom Sinn der Monaden-Kultur

Kolumnist der «neuen wege»? Das ist ein Job nach Mass für mich: Dass ich jemanden treffen werde, der liest, was ich geschrieben habe, wird kaum je vorkommen. Gerade deshalb werde ich mir einbilden dürfen, irgendwie ein Avantgardist zu sein, ohne wissen zu müssen, wo avant und wo derrière ist. Ich habe eine neue Fährte gefunden, die Sinn verspricht.

Auf ein bisschen Sinn angewiesen als Monade, herumirrend ohne Fenster zur wirklichen Welt, zumeist allein unterwegs auf dem Output-Kontinent der Kulturindustrie. Und treffe ich ausnahmsweise auf andere Rezeptionsmonaden, wird der Small-talk rasch ermüdend: Reihum darf immer jemand erzählen, die anderen sagen «toll», aber alle wissen, dass niemand eine Ahnung hat, wovon die Rede ist. Es geht um Bücher, die noch niemand gelesen hat; um Musik und Kunst, von der die landläufigen Cracks erst träumen; um Inszenierungen, Spektakel und Events vom anderen Ende der Welt; um Artikel und Sendungen in Medien, von denen man noch nie gehört hat. Ein hartes Leben: Rezeptionsmonaden sammeln auf ausgedehnten Streifzügen fleissig Kleingeld für ihr kulturelles Kapital, Münzen, die so exklusiv sind, dass sie gewöhnlich schon im Nachbarhaus als Tauschmittel versagen.

Derweil produziert die Kulturindustrie mit ihren grossen Rechenmaschinen immer schneller: Von Cyberrealitäten bis zur Wegwerfphilosophie – die Produktion kultureller Erzeugnisse ist so weit beschleunigt, dass auch führende SpezialistInnen nur noch so tun können, als ob sie in ihren Fachgebieten die Übersicht hätten.

Das Ende der technologischen Beschleunigungsmöglichkeiten ist nicht absehbar, aber die Grenze des Menschgemässen ist erreicht. So ungefähr muss der Gedanke gelautet haben, dem ich beim Spaziergang durch die Berner Altstadt letzthin tagträumend begegnet bin. Mein erster Reflex war: «Grenze des Menschgemässen – sofort vergessen! Kleinbürgerlicher Maschinenstürmerreflex! Neue Zeiten generieren eben neue Kulturen – du bist einfach alt geworden.» Weiter schlendernd kam mir dann Max Frisch in den Sinn: «Es gibt, so scheint es, einen menschlichen Massstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können.» In seinem «Tagebuch 1946-1949» hat Frisch diesen Satz beim Nachdenken darüber gefunden, warum Beschleunigung nicht zu mehr, sondern zu weniger Erleben führe. Mehr Tempo, hielt er fest, sei «das luziferische Versprechen, das uns immer weiter in die Leere lockt (…), weil unser Erleben, wenn ein gewisses Tempo überschritten wird, nicht mehr folgen kann.»

Es gibt Grenzen des Menschgemässen. Es gibt physiologische Grenzen der Aufnahmefähigkeit und der Rezeptionsgeschwindigkeit. Dass mir die Internet-Suchmaschine «Google» im Moment innert Sekunden 3 083 324 652 verschiedene Homepages auf den Bildschirm zaubern kann, ist das eine; das andere ist, dass ich knapp 98 Jahre vor dem Bildschirm verbringen müsste, wollte ich jede dieser Seiten auch nur eine Sekunde lang anschauen. In einer solchen Welt schwindet das Bewusstsein, im jeweils richtigen Moment das Notwendige zu wissen – gerade weil vieles davon abrufbar wäre, wenn man nur Zeit hätte, es zu suchen. Je weniger ich aber davon überzeugt bin, dass das mir mögliche Denkbare auf repräsentative Art welthaltig ist, desto sinnentleerter wird mein Gedachtes. Rezeptionsmonaden wie ich sind, in Frischs Bild, in die Leere Gelockte, weil die Monaden-Kultur eine Implosion des Sinns bewirkt.

Derweil nimmt die Beschleunigung weiter zu. Sie folgt aus der Revolutionierung der Produktionsmittel durch die dritte industrielle Revolution und hat ein Doppelgesicht: Sie ist gleichzeitig Ausdruck von technologischem Fortschritt und von Herrschaftstechnik. Der letztere Aspekt hat mich vor bald zehn Jahren im Tagebuch beschäftigt: «Als Folge der elektronisch revolutionierten, industriellen und medialen Beschleunigungen beschleunigt sich auch der soziale Wandel. In der Beschleunigung dieses Wandels liegt ein unübersehbares ordnungspolitisches, herrschaftsstabilisierendes Potential: Dieses verhindert immer vollständiger die Entstehung, das Wachstum und die Konsolidierung von Identität, das Zu-sich-selber-Kommen und Halt-Sagen. Ohne Identität jedoch gibt es – in meinem Verständnis, will ich heute vorsichtigerweise bereits beifügen – keine Kultur. Kultur wiederum wäre jene Instanz, die Werte der Langsamkeit – des Wachsens statt Produzierens, des Werdens statt des Gemacht-Werdens – setzen kann gegen die Beschleunigungsstrategie des Kapitals.» Zuspitzt: Ist der soziale Wandel einmal so weit beschleunigt, dass die Gegenwart nicht mehr benannt werden kann, weil sie Vergangenheit ist, bevor man sie erkannt hat, dann wird die Welt unveränderbar: rasender Stillstand. «Nie werden die Eichhörnchen im Drehrad», schloss ich damals,  «den Bewusstseinsstand der Käfigkonstrukteure erreichen». Heute würde ich das in weniger strengem Jargon weniger verschwörungstheoretisch formulieren: Die Monaden-Kultur ist nicht von einzelnen zwecks Herrschaftsstabilisierung am Schreibtisch entworfen worden. Aber trotzdem gibt es sie: als Kollateral-Schaden der dritten industriellen Revolution.

In einem zentralen Punkt stellt die Monaden-Kultur meinen bisherigen «Kultur»-Begriff auf den Kopf. Kultur war für mich bisher die Summe unzählbar vieler Prozesse, die mittels künstlerischer Aktion symbolisch abgebildet wurden: So erklärte ich mir bisher das Entstehen von Kunstwerken. Wichtiger aber als diese Werke waren für mich die Prozesse, die in ihrer Summe historisch gesehen das entstehen liessen, was der Begriff «Zivilisation» umschreibt. In der Monaden-Kultur ist das anders: Das Werk ist zum Produkt, der Prozess zur Vorlaufzeit der Produktelancierung und damit zum Kostenfaktor degeneriert. Machte das Kunstwerk mit der Symbolisierung eines Prozesses Sinnangebote, symbolisieren die Produkte der Monaden-Kultur nichts als die Überflüssigkeit symbolisierter Prozesse. Insofern sind sie sinn-los.

Positiv formuliert: Die Monaden-Kultur hat sich vom Sinn
emanzipiert. Nicht mehr die Kunstwerke machen Sinnangebote, sondern die Rezeptionsmonaden auf ihren einsamen Wegen durch den Output-Kontinent erschaffen Sinn während des Prozesses, der das Abschreiten der Wege bedeutet. In der Monaden-Kultur verlagert sich das Kulturschaffen demnach von der Produktions- auf die Rezeptionsseite. Das hat eine erfreuliche Seite: Alle Rezeptionsmonaden werden zu Kulturschaffenden. Und eine problematische: In der Monaden-Kultur versinkt jeder Sinn, der über den rein individuellen hinausginge, hinter dem Horizont des Vorstellbaren. Monaden-Kultur ist autistisch und hat die zivilisationsbildende Kraft eingebüsst. Sie bildet ein Amalgam mit jener Kraft, die vereinzelt, um herrschen zu können.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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