Bin ich am Ende ein Religiöser Sozialist?

In den letzten zwei Jahren habe ich hier Kolumnen geschrieben – für die «Zeitschrift des Religiösen Sozialismus». Erst letzthin bin ich über die Frage gestolpert: Bin ich am Ende ein Religiöser Sozialist?

Eher nicht, habe ich mir spontan gesagt, schon deshalb, weil ich nicht religiös bin. Zwar bin ich Mitglied der evangelisch-reformierten Landeskirche, insofern ich dort nie ausgetreten bin, aber die Idee, an eine göttliche Instanz zu glauben, ist mir nie anders als fremd gewesen. Das Wort «Gott» scheint mir in der Kommunikation die gleiche Funktion zu haben, wie das Wort «Null» in der mathematischen Multiplikation: Tauchen diese Begriffe auf, ist fertig gerechnet und fertig argumentiert, weil alles Vorangegangene blitzartig auf «Null» und «Gott» hin implodiert.

Darüber hinaus frage ich mich ab und zu: Wieso soll ich mich mit einer Instanz herumschlagen, der es in ihrem unerforschlichen Ratschluss gefällt, jede über eines meiner Sinnesorgane wahrnehmbare Kommunikation zu verschmähen – umso mehr als mich diese Instanz geschaffen haben soll und demnach meine Beschränkungen kennen muss? Ich bin Gott nie begegnet und habe gelernt, gegenüber Gläubigen, die mich bedauern, weil ich es nicht so weit gebracht habe wie sie, respektvoll zu schweigen und mich diskret nach der Serviertochter umzuschauen, damit ich bezahlen kann.

Als Linker lernte ich aber auch, dass gegenüber dem Atheismus der Gleichgesinnten exakt das Gleiche gilt. Soviel Glauben es braucht, von der Existenz eines Gottes überzeugt zu sein, soviel Glauben braucht es, diese Existenz zu bestreiten. «Agnostisch» sei meine Haltung, sagen Gläubige und Atheisten und werfen mir gleichermassen vor, das sei feige Unentschossenheit in einem Punkt, an dem es nichts anderes gebe als Matthäus 5, 37. Ja ja. Trotzdem sind mir bis heute unbeantwortbare Fragen lieber als unüberprüfbare Antworten, und lieber setze ich mich mit meiner Angst vor dem Tod – und vor dem Leben – auseinander als mit der kompensatorischen Idee eines Lebens nach dem Tod, die zwar schön sein mag, aber mir offensichtlich aus einer magischen, menschheitsgeschichtlich vergangenen Gedankenwelt zu entstammen scheint.

Trotzdem habe ich den Auftrag angenommen, für die «Neuen Wege» Kolumnen zu schreiben. Weder hat mich der Untertitel der Zeitschrift je gestört, noch bin ich von der Redaktion zu Beginn gefragt worden, ob ich ein Religiöser oder zumindest ein religiöser Sozialist sei. Dass ich ins Umfeld einer solchen Zeitschrift gehöre, hat zwei Gründe: Erstens respektiere ich, dass sich die «Resos» auch in den dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhunderts für eine demokratische Ausgestaltung des Sozialismus eingesetzt haben, für die in meinen besten Momenten auch ich einstehe (auch wenn ich in letzter Zeit vermehrt befürchte, dass sich Freiheit und Gerechtigkeit eben doch ausschliessen). Und zweitens wurde ich als Kollektivmitglied der WOZ verschiedentlich ironisch als «Pfarrer der Zeitung» tituliert, weil ich dort für viele ein unverbesserlicher Moralist war. Tatsächlich wurde ich vielleicht mehr als andere von der Frage beunruhigt: Warum sollte sich der Mensch in einer a-religiösen Kultur darum bemühen, für das einzustehen, was ihm vernünftig und deshalb richtig erscheint? Mich interessiert die Frage nach tragfähigen ethischen Grundwerten und ich sehe sie – nicht anders als die Grundsatzzerklärung der schweizerischen Resos von 1998 – in der Gerechtigkeit, dem nachhaltigen Umgang mit der Natur, in der Solidarität und im Frieden.

Aber wo ist denn dann mein Problem mit dem Religiösen Sozialismus? Es steckt im letzten Satz dieser Grundsatzerklärung: «Eine Religion, die an den Bund Gottes mit den Menschen glaubt, trifft sich mit einem Sozialismus, der will, dass alle menschenwürdig und im Einklang mit der Schöpfung leben können.» Abgesehen davon, dass mir die Rede vom «Einklang mit der Schöpfung» mit Blick auf den Vers 28 im 1. Mose-Buch doch ein bisschen gar euphemistisch klingt, werden die beiden Teile dieser Aussage durch einen a-logischen Link zusammengehalten.

Suggeriert wird, Religion habe etwas mit Sozialismus zu tun. Das ist nach meiner Überzeugung falsch, und zwar deshalb: Ich kann mir die Entstehung der menschlichen Sprache nicht anders denn als allmähliche Ausdifferenzierung von tierischen Lauten vorstellen. Die differenziertere Organisation des sozialen Raums der Menschen bedingte die Ausdifferenzierung dieser Laute. So entstand Sprache als lautlicher Spiegel der sozialen Ordnung. Der Motor dieses zwischen den Polen Recht und Unrecht aufgespannten Diskurses war das jeweilige Interesse der Sprechenden. Im Laufe der Jahrzehntausende wurde dieser Diskurs von einem zweiten überformt, der den allmählichen Selbstbewusstwerdungsprozess der frühen Menschen spiegelt: Über dem sozialen entstand ein existentieller Diskurs, aufgespannt zwischen den Polen Leben und Tod und mit dem Motor einer nicht-interessegeleiteten Instanz («Wahrheit»). Seither gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Diskurse, die mit den Bausteinen der einen und gleichen Sprache gebaut worden sind. Sogar wenn sie das Gleiche sagen, meinen sie Verschiedenes: Sie beziehen sich dauernd, aber immer nur metaphorisch aufeinander.

Paul Celan hat geschrieben: «EIN DRÖHNEN: es ist/ die Wahrheit selbst/ unter die Menschen/ getreten, mitten ins/ Metapherngestöber.» Das ist die Formel einer sprachutopischen Vision, die besagt: Die Wahrheit ist etwas, das von ausserhalb in das Metapherngestöber der Sprache einbricht, nicht als neue Sprache, sondern als das ganz andere: als «Dröhnen». Wer auf Sprache angewiesen ist, um sich verständlich zu machen, redet nie «wahr»: In der Sprache ist das «Wahre» vom Interessengeleiteten weder zu unterscheiden noch zu trennen.

So wie Religion ein Kontinent ist im existentiellen Sprachuniversum, so ist Sozialismus ein Kontinent im sozialen Sprachuniversum. Und so wie der sozialistische Diskurs dank des «Metapherngestöbers» unter gewissen Aspekten ein religiöser zu sein scheint, so scheint der religiöse unter gewissen Aspekten ein sozialistischer zu sein. Aber Gerechtigkeit fordert den Ausgleich von Interessen, nicht Wahrheit; und umgekehrt lässt sich in einem existentiellen Sinn um Leben und Tod nicht rechten.

Wer für die Gerechtigkeit der Welt betet, führt eine metaphorische Rede und bezeugt das mit einer symbolischen Handlung. Menschen beten um Gerechtigkeit aus dem Bedürfnis heraus, gläubig und sozial verantwortet leben zu wollen. Das respektiere ich. Ich befürchte bloss, die Verwechslung dieser Rede mit Sozialismus sei heillose Sprach-Alchemie. Ich bin zutiefst überzeugt, dass kein Gott hilft (noch nötig ist), um die Welt gerecht und menschgemäss zu organisieren. Darum bin ich kein Religiöser Sozialist.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5