Heute bin ich wieder einmal am Samstagsinterview des «Bunds» hängengeblieben: Der israelische Historiker Yuval Harari ist ein geistreicher Gesprächspartner, der die Mär, der Mensch sei die Krone der Schöpfung, als anthropologischen Wahn kritisiert. Der Mensch ist, sagt er, «das gefährlichste Raubtier der Welt», und die von ihm zurzeit industriell betriebene Landwirtschaft zum Beispiel sei, «gemessen am verursachten Leid, wohl eines der ärgsten Verbrechen in der Geschichte». Überhaupt sei die landwirtschaftliche Revolution, die die urzeitliche Jäger- und Sammlerkultur zerstört hat, seinerzeit höchstens für «die Könige, Priester [und] Händler» «eine gute Sache» gewesen – heutzutage demnach für die Minderheit der Privilegierten in den hochindustrialisierten Ländern (also für solche wie mich).
Grundsätzlich sei das Leben der Bauern Jahrtausende lang härter gewesen als jenes der Jäger und Sammler zuvor. Zudem habe die arbeitsteilig organisierte Welt der sesshaft Gewordenen die «hervorragenden mentalen Fähigkeiten» der Nomaden zerstört, die darin bestanden hätten, alles zu können, was zum Überleben nötig war. Der Verlust dieser Fähigkeiten habe sich seither sogar in die menschliche Anatomie eingeschrieben: «Tatsächlich hatten die Menschen vor 20000 Jahren grössere Gehirne als [wir] heute.» So steht’s also um die Krone der Schöpfung im Moment, in dem sie sich anschickt, Gott zu spielen – «natürliche Selektion durch intelligentes Design zu ersetzen», wie Harari es sagt.[1]
Eine empfehlenswerte Lektüre, dieses Gespräch, und eigentlich hätte ich jetzt Lust, Hararis Buch «Kurze Geschichte der Menschheit» zu lesen, das ich letzthin irgendwo rühmen gehört habe. Aber ich werde es nicht kaufen, weil ich immer noch der gleiche bin wie seinerzeit.
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Seinerzeit war ich so: Zwischen 1982 und 2001 sass ich in Zürich nicht immer, aber immer wieder an den Planungssitzungen der WochenZeitung WoZ. Die nachhaltigste Erinnerung ist die, dass mir diese Sitzungen eine Belastung waren. Hatte ich zur Vorbereitung im Zug von Bern nach Zürich – statt mich routiniert durch NZZ, Tagi und mindestens eine der bernischen Zeitungen zu blättern – die Zeit mit der pingeligen Lektüre einer Reportage über die Renaturierung der Emme oder einen Bericht über die Subkultur von Grosshöchstetten verplempert, so traf ich an der Sitzung auf Leute, die die Welt von Wladiwostok über Zürich bis Los Angeles im Kopf hatten und bei allen Themen bereits sicher wussten, wer warum mit welcher Fragestellung darüber den definitiven Artikel zu verfassen habe.
Ich hatte wirklich ein Problem: Als relativ bildungsfern Aufgewachsener hatte ich eine ziemlich abwegige Idee, was eine Zeitung sei. Meine Überzeugung war, Zeitungen transportierten Texte, die ich so lesen müsse, dass ich danach nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form des Textes verstanden hätte. Ich lernte (und lerne noch), dass an den Medien nichts interessiert als die Dienstleistung, zu wissen, was angesagt ist, wenn man unter die Leute geht.
Ganz langsam begriff ich: Wer Zeitungen liest, verliert nur Zeit. Hatten andere das Geschick, sich auf der Oberfläche der medial aktuell vermittelten gesellschaftspolitischen Realität wie Wasserhüpfer zu bewegen, durchbrach ich sie mit meinem Tick, so genau wie möglich zu lesen, wie ein Stein und blieb liegen, wo der Zufall mich hinfallen liess: Während andere mit ihren Spielmarken der Relevanz das inhaltliche Feld der nächsten Zeitung absteckten, kam ich von Grosshöchstettens Subkultur nicht los, die mich als Journalist zu interessieren begonnen hatte, obschon Grosshöchstetten kein Thema war.
Das ist der Grund, warum ich jetzt nicht in die nächste Buchhandlung renne, um Hararis «Kurze Geschichte der Menschheit» zu kaufen: Ich würde an mich den Anspruch haben, das Buch von vorn bis hinten durchzulesen. Und das geht eben nicht.
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Denn im Moment sieht es auf meinem Schreibtisch so aus: Da liegen die beiden Bände mit den späten Vorlesungen von Michel Foucault, die ich mir wegen des Begriffs der «Parrhesia» gekauft habe. Im Band «Die Regierung des Selbst und der anderen» steckt das Buchzeichen bei Seite 194, der Band «Der Mut zur Wahrheit» ist ungelesen. Daneben liegt der neue «Widerspruch» «Medien, Internet – Öffentlichkeit», zitiert in der letzten Monatskolumne, das Buchzeichen bei Seite 96. (Wer liest denn eine Textanthologie von vorn nach hinten: Lerch, meine Nerven!).
Dann ein Stapel von kaum angelesenen Büchern. Andreas Reckwitz: «Die Erfindung der Kreativität», als spannend erwähnt vom ehemaligen Pro Helvetia-Chef Pius Knüsel an einer Podiumsdiskussion, die ich im letzten November besucht habe. Das Buchzeichen steckt bei Seite 25. Dann Ludwig Feuerbach: «Das Wesen des Christentums». Kam mir billig in die Finger, dachte, in einer Zeit, in der religiös fundierte Komplexitätsreduktionen zunehmend epidemisch und gemeingefährlich werden, könne ein bisschen Religionskritik nicht schaden, Seite 13. Pirmin Bossart: «Trip 77. Unterwegs in Indien». Eben erschienen, mir von jemandem, den ich nicht kenne, zugeschickt. Hat wohl gedacht, ein ausrangierter Schurni habe immer Zeit, ein über 300seitiges Buch zu rezensieren, und ein Medium für die Veröffentlichung wird er ja wohl zur Hand haben. Kein Buchzeichen. Sabine Hunziker: «Flieger stören Langschläfer», der Romanerstling einer jungen Bernerin, Seite 20. Karl Hepfer: «Verschwörungstheorien». Ein Thema, das mich fasziniert, weil ich selber gern von den Motiven der Akteure her Arbeitshypothesen entwickle, bevor ich mich um die Fakten kümmere, denn selbstverständlich werden bei allen weltbewegenden Geschichten (und nicht nur bei denen) Fakten unterdrückt, manipuliert und vernichtet – und selbstverständlich ist diese Behauptung erst mal nichts anderes als eine Bastelanleitung für Verschwörungstheorien. Seite 51. Dazu auf dem Nachttischchen der Roman «Bring mir Jagdfang» von Johanna Lier, einige Zeit WoZ-Kollegin, seither hat sie sich als Lyrikerin profiliert, jetzt ihr erster Roman. Seite 174. Und dann sind da noch zwei Bände von Walter Vogts Werkausgabe, die ich aus beruflichen Gründen lesen sollte: der postume Roman «Das Fort am Meer» (S. 22, bereits gelesen habe ich den editorischen Bericht und Christoph Geisers «Nachwort für Walter») und die Essays «Schreiben als Krankheit und als Therapie» (noch kein Buchzeichen). Neben dem Schreibtisch am Boden ein Stapel mit meist ungelesenen Zeitungen und Zeitschriften, WOZ, Work, Beobachter, anderes.
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Geht das eigentlich den anderen nicht auch so, dass sie merken: Es läuft immer mehr so? Nehmen nicht auch wasserhüpfende Mediencracks zunehmend wahr, dass sich das, was auch sie noch vor zwanzig Jahren unter der Rezeption von Medien verstanden, nicht mehr gibt? Dass man damals ein mediales Produkt wenn nicht von A bis Z dann doch zumindest von A bis B zur Kenntnis nahm, bevor man so tat, als kenne man es nicht nur ganz, sondern wisse zudem noch besser, worum es gehe, als das Produkt selbst? Dass man sich die Zeit für den Medienkonsum deshalb nahm, weil er den Mehrwert schaffte, später mit anderen darüber reden zu können? Dass diese Gespräche die Rezeption vertieften und das Schöne – nicht allein zu sein – mit dem Nützlichen – neue Sichtweisen verstehen zu lernen – verband? Dass dieser Mehrwert verloren gegangen ist, weil es auch in freundschaftlichen Netzwerken kaum mehr einen Konsens darüber gibt, was sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zu rezipieren lohnt – weil es keinen Konsens mehr gibt, was zu rezipieren das Dringlichste, Nötigste ist? Dass alle – als Rezeptionsmonaden ohne sozialen Anschluss im medialen Tsunami – etwas anderes für das Dringlichste und Nötigste halten, gerade deshalb als Medienjunkies immer noch wachsende Medienquantitäten konsumieren in der Hoffnung, so wieder Anschluss an Menschen zu finden, mit denen man über das reden kann, was den eigenen Kopf füllt (nämlich Junk)?
Ist es heute nicht so, dass man die gesellschaftlichen Verlierer nachgerade daran erkennt, dass sie Rezeptionsjunkies sind? Menschliche Mülleimer zur Beseitigung verkaufter Medienware? Ist es nicht so, dass der Lesegrüppchen-Groove nur noch das bildungsbürgerliche Nostalgieprogramm einer wegsterbenden Generation ist? Dass die Wirklichkeit darin besteht, dass von einem halben Dutzend Kids fünf verstöpselt in ihrer monadischen Traumwelt halluzinieren und das sechste abgehängt ins Leere blickt, weil es hinter tausend Stäben keine Welt sieht? Dass es egal ist, wenn dieses sechste Kid ein ganz und gar überflüssiger Mensch wird, solange die anderen fünf als Rezeptionssklaven verkabelt bleiben und für die sendenden gesellschaftlichen Gewinner klick- und einschaltquotensteigernd den Abfalleimer spielen? Und weshalb sollte es eine Rolle spielen, ob sie sich in ihrer Scheinwelt dabei einbilden, von allen geliebt, solidarisch mit der Welt, und für die Erschaffung des Paradieses auf Erden bedeutend zu sein – solange sie sich örtlich und zeitlich desortientiert brauchen lassen und auf dem Boden, auf dem sie eigentlich stehen, keinen Fuss vor den anderen kriegen?
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Vor 20000 Jahren wussten die Jäger und Sammler mit dem grossen Hirn alles, was sie wissen mussten, um zu überleben. Ich zum Beispiel weiss nicht einmal, welches Wissen ich mir heute aneignen müsste, um meine Möglichkeiten zu überleben zu verbessern. Wenn es um das eigene Überleben geht, ist die Mitbestimmung heutzutage im Dschungel der Sachzwänge ja relativ eingeschränkt.
Das ist das Paradox der «Wissensgesellschaft», in der ich lebe: Wer es nötig hat, sich dauernd um Wissen zu bemühen, um zu wissen, wie es ist, hat schon verloren. Gewonnen haben jene, die sagen, wie es ist – unabhängig davon, was sie wissen. Nicht die Köpfe sind entscheidend, sondern die Möglichkeit, in einer gesellschaftspolitisch relevanten Weise zu sagen, wie es ist. Vielleicht schrumpft das Hirn deshalb: Das Denken der Meisten hat den Anschluss an das Tun und Lassen verloren. Klar sind die Gedanken frei – aber wen interessiert das, wenn Nichtdenken freier macht?
[1] So funktioniert heutzutage deutschschweizerische Medienvielfalt: Ich lese das Interview in der «Bund»-Ausgabe vom 28. Mai. Im Netz finde ich es danach unter dem Datum 21. Mai auf der Onlineplattform der Basler Zeitung mit der Quellenangabe «Tages-Anzeiger».