Versuch über ästhetische Abrüstung

Als Papst Franziskus Ende März 2014 den prunksüchtigen deutschen Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst abberief, war das Ereignis dem ansonsten protestantischen Berner «Bund» einen Kommentar wert. Im Gegensatz zum «liturgischen Ästhetizismus» des Vorgängers Benedikt XVI, schrieb Michael Meier, verbinde der jetzige Papst «die Hinwendung zu den Armen glaubhaft mit ästhetischer Abrüstung» («Bund», 28.3.2014). Das Vorgehen des Papsts ist so glaubwürdig wie andere Imagekorrekturen, die CEOs ihren multinationalen Konzernen applizieren und wäre hier nicht der Erwähnung wert. Aber Meiers «ästhetische Abrüstung»: Welch ein inspirierender Begriff!

Mir fiel blitzartig ein Textabschnitt ein, den ich in Max Frischs letzthin erschienenem, posthumem Buch «Aus dem Berliner Journal» gelesen habe: «Nachlassen der Erfindungskraft, aber gleichzeitig kommt etwas hinzu, was nicht ohne weiteres eine Folge des Nachlassens ist: ein geschichtliches Interesse an der eigenen Biographie und an der Biographie andrer, die man zu kennen gemeint hat, ein Interesse an der Faktizität, die ich bisher nur als Material missbraucht habe, nämlich willkürlich gesehen oder nicht gesehen, in Literatur verdrängt.» (79)

Die Notiz stammt vom 29. März 1973. Damals war Frisch als Verfasser von «Stiller» (1954), «Homo Faber» (1957) und «Mein Name sei Gantenbein» (1964) längst als herausragender Fiktionalist international arriviert und nicht zuletzt deswegen zu Ruhm und Reichtum gekommen (auch ein Thema, über das Frisch in den Journal-Notizen nachdenkt). In diesen wenigen Zeilen stellt er seine erfolgreiche Arbeit als Erzähler in Frage und denkt über einen radikalen Strategiewechsel im Umgang mit der Faktizität nach. Seine «Literatur», sagt er, und damit meint er an dieser Stelle zweifellos in erster Linie die Prosafiktionen, missbrauche das, was ihm als «Faktizität» eigentlich erkennbar wäre. Der Missbrauch bestehe drin, dass man beim Fiktionieren die Faktizität willkürlich respektive gar nicht zur Kenntnis nehme, weil man sie «in Literatur verdrängt».

«Verdrängt»? Eine interessante Wortwahl. In der Psychoanalyse steht «Verdrängung» für den Abwehrmechanismus, der Tabuisiertes, Bedrohliches, nicht in die Weltsicht Integrierbares aus der bewussten Wahrnehmung ausschliesst. Allerdings «verdrängt» streng genommen jeder Versuch, «Faktizität» in einen so oder so linear strukturierten Text zu fassen. Jeder Versuch collagiert im Steinbruch der Faktizität ausgewählte Bruchstücke nach Massgabe des subjektiven Erkenntnisinteresses. Nicht nur in der Literatur, auch im Journalismus. Sogar in der wissenschaftlichen Prosa. Aber das war Frisch auch klar. Was er hier sagt, ist vermutlich folgendes: Statt Faktizität zu zerschlagen und die rund geschliffenen Bruchstücke im Kulissenwerk dessen einzubauen, was man für seine originale und originelle Erfindung hält, könnte es interessanter sein, daran zu scheitern, Faktizität ohne ästhetische Originalitätereien, quasi: unbearbeitet in die Schrift zu stellen. Diese Strategie würde bedeuten: die Faktizität besser auf den Begriff zu bringen durch Verzicht auf das, was dem Buchmarkt als «Literatur» und den Jurys als preiswürdige «Kunst» gilt.

Kurzum: Frisch hat hier über eine «ästhetische Abrüstung» im Bereich des Literarischen nachgedacht. Überblickt man seine späteren erzählerischen Texte – «Montauk» (1975), «Der Mensch erscheint im Holozän» (1979) und «Blaubart» (1982), kann man zweifellos sagen: Zumindest ansatzweise hat er diese Abrüstung auch umgesetzt. Die Bedeutung des Fiktiven wird in den späten Texten kleiner. Sie lassen sich teils als Autobiografik, teils als Essayistik vor dem Kulissenwerk bloss noch flüchtig skizzierter Fiktion lesen. Fiktion als didaktisches Zugeständnis. Als Schmiermittel für die Marktgängigkeit.

Und heute? Am 19. November 1967 hat Jörg Steiner in einem Interview mit der «National-Zeitung» gesagt, er habe als «eine der eindrücklichsten politischen Lehren» gelernt, «dass in der Schweiz jeder sagen dürfe, was er wolle, sofern er in der Lage sei, die materiellen Folgen zu tragen». Klar: Er sprach dort als politischer Schriftsteller in einer politisch repressiveren Zeit. Unterdessen gilt der Begriff «politischer Schriftsteller» als Widerspruch in sich selbst. Aber zu sagen, deswegen sei alles anders, wäre naiv. Es ist umgekehrt: Unter veränderten Vorzeichen ist heute alles gleich. Was im Kalten Krieg die repressive Macht der «unheimlichen Patrioten» gewesen ist, ist heute der wettbewerbsbeschwörende Sozialdarwinismus der Marktgläubigen. Damals wurde das Sagbare durch die Politik zensuriert, heute wird es durch den Markterfolg limitiert.

Was das mit ästhetischer Abrüstung zu tun hat? – Unterdessen leistet sich kein kommerzieller Verlag mehr die Publikation eines noch so guten Manuskripts, wenn es bloss fünfhundert Bücher zu verkaufen verspricht. Am besten schluckt der Markt tendenziell aber dick aufgetragene, rhetorisch artistische, eskapistische Fiktion. Faktizität stört bloss, weil sie den Unterhaltungswert des Textes schmälert. Wozu der Buchmarkt zwingt, ist – andersherum – eine ästhetische Aufrüstung im Nachvollzug der kulturindustriell erfolgreich getesteten, fiktiven Topoi.

Ein bisschen Krimi, ein bisschen unverbindliche Sozialkritik, ein bisschen Liebesgeschichte, dazu ein bisschen eigener Ton als Manier: Wer anderes oder anders schreibt, darf das selbstverständlich. Es gibt nichts Liberaleres als den Markt. Auf jeden Fall, solange man sich sein Geschreibsel leisten kann. Und danach hört man damit ganz von selber auf. (1.6.2014)

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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