Die Gesichter der «Überflüssigen»

Das Tier in mir neigt dazu, jene Menschen für überflüssig zu halten, die meinen Interessen im Weg stehen, insofern ich sie nicht so gut kenne, dass ich in Gefahr laufe, sie als Personen zu schätzen. Ich vermute, dass es anderen ähnlich geht. Wen man im konkreten Fall für überflüssig hält, ist immer auch eine ideologische Frage: In den letzten hundert Jahren sind «Überflüssige» aus nationalistischen, politisch-ökonomischen, ethnischen oder religiösen Gründen ausgegrenzt, bekämpft und verschiedentlich in industriellem Ausmass umgebracht worden.

Gegen die «Überflüssigen» hat in den 1880er Jahren zum Beispiel Friedrich Nietzsches Zarathustra polemisiert: gegen «die Schwindsüchtigen der Seele», die – «eingehüllt in dicke Schwermut» – Leben als Leiden, Wollust als Sünde und Mitleid als Notwendigkeit predigen. Zarathustra nennt sie «Prediger des Todes» und stellt fest: «Voll ist die Erde von Überflüssigen, verdorben ist das Leben durch die Viel-zu-Vielen. Möge man sie mit dem ‘ewigen Leben’ aus diesem Leben weglocken!» Einige Seiten weiter sind für Zarathustra dann all jene die «Überflüssigen», die den Staat brauchen, den «Staat, wo der langsame Selbstmord aller – ‘das Leben’ heisst». [1] Zarathustras «Überflüssige» sind, so verstehe ich das, in einem ethischen Sinn Lebensunwürdige, weil sie sich über ihre tierische Natur aufzuschwingen weigern. Lebenswürdig umgekehrt ist genau genommen nur Zarathustras (göttliche) Einzigartigkeit. Was der Verfasser damit bestenfalls sagt: Mensch ist man nicht, Mensch muss man werden; Mensch zu sein ist keine feststehende Tatsache, sondern eine Utopie. Das 20. Jahrhundert hat aus Nietzsches Text allerdings eher die Komplexitätsreduktion durch Massenvernichtung herausgelesen als die Utopie einer Menschwerdung über das Tier hinaus.

Bedeutend differenzierter hat Hanna Arendt den Begriff eingesetzt. Im «Epilog» zu «Eichmann in Jerusalem» braucht auch sie ihn in einer visionären Passage: «Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automatisation einerseits, die grosse Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte ‘überflüssig’ zu machen droht [2], und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man ‘Probleme’ mit einem Vernichtungspotential lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen.» [3] In einem Essay hat Waltraud Meints-Stender Arendt als eine «kritische Theoretikerin der sozialen Exklusion avant la lettre» gewürdigt. In Bezug auf Arendts Buch «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» schreibt sie: «Im Zentrum steht die These von der Weltlosigkeit durch Überflüssigkeit. Im Überflüssigmachen von immer mehr Menschen sah Arendt die grösste Gefahr und das grösste Übel der modernen Gesellschaft.» Arendt habe erkannt, «dass es die funktionale Irrelevanz, die Exklusion aus allen gesellschaftlichen Funktionssystemen ist, die Menschen in den entmenschenden Status des ‘Überflüssigseins’ wirft». [4]

Dieser Aspekt der Exklusion, des Ausschlusses aus der Arbeitswelt und damit der sozialen Teilhabe ist es, den die Soziologie seit einigen Jahren unter dem Begriff der «Überflüssigen» diskutiert: «Die ‘Überflüssigen’ erscheinen als die andere Seite des allseits geforderten und gefeierten ‘unternehmerischen Selbst’. Wer sich durch Körper-Sharping, Anti-Aging und Alltagsdoping fit und flexibel hält, fühlt sich in Augenblicken der Ermüdung und Ermattung schnell vom Gespenst der Überflüssigkeit bedroht. Was zählt man noch, wenn man nicht mehr mithalten kann?» [5]

Die Auseinandersetzung mit diesem soziologischen Aspekt der Überflüssigkeit hat mich vor einigen Jahren zunehmend interessiert (wohl auch aus autobiografischen Gründen). Einigen «Überflüssigen», das heisst: überflüssig Gemachten, ein Gesicht zu geben, das war dann der inhaltliche Anspruch, mit dem ich 2009 die Arbeit an jenen vier Reportagen in Angriff nahm, die 2012 unter dem Titel «Alles bestens, Herr Grütter» als Buch erschienen sind. Seine Rezeption und sein Verkaufserfolg haben zwar nicht viel mehr zu beweisen vermocht als die Überflüssigkeit der Texte und damit ihres Verfassers. Dafür mache ich sie nun ab sofort auf diesem Portal zugänglich.

2013 hat der deutsche Journalist Kai Ehlers nun eine Umwertung des Begriffs der «Überflüssigen» vorgeschlagen. Es gehe darum, schreibt er, «die eigene ‘Überflüssigkeit’ als Chance, als Aufforderung zur Entwicklung von Perspektiven zu nutzen, die über die blossen Effektivitätsanforderungen der Gegenwart hinausführen». Es gehe darum, «das Überflüssig-Werden nicht nur als Krankheit der Gesellschaft und als ausweglose eigene Situation zu begreifen, sondern als Freiheitsgewinn, als Aufforderung, die freigesetzten Kräfte anders einzusetzen». [6]

Klar, Ehlers’ Postulat ist sympathisch. Empowerment tönt einfach immer gut, und mich als Jugendbewegten der 80er Jahre erinnerten Ehlers’ Sätze beim ersten Hinhören anheimelnd an das seinerzeit gern zitierte Motto von Herbert Achternbuschs Werkausgabe: «Du hast keine Chance, aber nutze sie.»

Jedoch: Wenn Achternbusch als engagierter Kulturschaffender zu einem allenfalls kompromisslosen kulturpolitischen Engagement ermunterte, will der radikale Sozialromantiker Ehlers mehr und anderes: Das «Neue», schreibt er, könne «nur aus dem tiefen Inneren jedes einzelnen Menschen selbst kommen […], so wie die Erneuerung der Gesellschaft nur aus der Minderheit kommt». [7] Werde man zum Überflüssigen gemacht, sagt er mit anderen Worten, gehe es zuerst darum, sich selbst zu erneuern, um bereit zu werden, danach – als offenbar revolutionäre Minderheit – die Gesellschaft zu erneuern.

Ich dagegen denke, ich werde der gesellschaftlichen Situation der Überflüssigen gerechter, wenn ich davon ausgehe, dass sie in den anstehenden grossen Verteilkämpfen des 21. Jahrhunderts um Rohstoffe und Wasser kaum eine Chance erhalten werden, nach ihrer Exklusion zuerst ihre Persönlichkeit zu entwickeln, um sich danach einer Avantgarde der Überflüssigen anzuschliessen, die mit Voltaires «Il faut cultiver notre jardin!» machtvoll einer nachhaltigen Vernunft zu ihrem Recht verhelfen wird.

Was sollte denn in diesem Garten noch wachsen, wenn das Saatgut und das zu dessen Pflege notwendige Wasser erst von wenigen transnationalen Konzernen monopolisiert sein werden? Ich befürchte, wir Überflüssigen werden zunehmend in Wüsten der Abhängigkeit leben. (1.8.2014)

[1] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Werke [Hrsg.: Karl Schlechta], Frankfurt/Berlin/Wien (Ullstein) 1972, II, 310 f., 314.

[2] Darauf, dass die Maschinen Arbeiter freisetzen, die dadurch «eine überflüssige Arbeiterpopulation» bilden, «die sich das Gesetz vom Kapital diktieren lassen muss», hat schon Karl Marx hingewiesen (Das Kapital I, Berlin [Dietz] 1984, 430). Ebenda (Seite 673) bezeichnet er diese Überflüssigen als «Lumpenproletariat» und teilt sie in drei Kategorien: in «Arbeitsfähige», die mit den konjunkturellen Schwankungen zu- oder abnehmen, in «Waisen- und Pauperkinder» als «Kandidaten für die industrielle Reservearmee» und in «Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige».

[3] Hanna Arendt: Eichmann in Jerusalem. München/Zürich (Piper) 20134, 396.

[4] taz, 14.10.2006.

[5] Heinz Bude/Andreas Willisch [Hrsg.]: Exklusion. Die Debatte über die «Überflüssigen», Frankfurt am Main (suhrkamp) 2008, 11.

[6] Kai Ehlers: Die Kraft der «Überflüssigen». Der Mensch in der globalen Perestroika, Bonn (Pahl-Rugenstein) 2013, 11.

[7] Ehlers, a.a.O., 239.

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