Es war einmal ein Boykott

Hast du die Expo-Arteplages schon besichtigt? Noch ist alles im Bau, aber trotzdem: imposant, wirklich. Als Schurni kommst du da nicht drum herum. Sogar wenn du darüber nichts machen müsstest – hier gehts um Allgemeinbildung. Aber du wirst was machen müssen. Alle werden was machen müssen. Was da auf dich zukommt, ist unausweichlich wie ein Wirbelsturm – ein ideologischer «Lothar» mit gewaltigem Schub: 1,5 Milliarden Schweizer Franken. Nicht auszuschliessen, dass im Herbst einiges flach liegen wird, was heute noch ganz robust herumsteht.

10000 Events, mehr als drei Dutzend Ausstellungen: In Biel zum Beispiel «Strangers in Paradise» von der Migros; in Yverdon «Wer bin ich?» von der Eidgenossenschaft; in Neuenburg «Biopolis» von der Novartis; in Murten «Un ange passe» von den Schweizer Kirchen. Und in den Seen kreuzt die «Arteplage Mobile du Jura» als Piratenschiff mit Kultur der avancierteren Art an Bord. Wie Graffiti-Writers vor den weissen Wänden eines Kunstmuseums stehen zurzeit die Kulturschaffenden vor den Eingangstoren: Kopf, Herz und Hand voll politisch korrekter Expokultur.

Kulturschaffende? Stimmt: ein Wort aus dem Kalten Krieg – wie «Kulturboykott». Erinnerst du dich an den 6. April 1990? «Wir boykottieren jegliche kulturelle Mitarbeit bei sämtlichen Veranstaltungen zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft.» Eine Geschichte, die zum Märchen wurde: Es war einmal ein Fichenstaat, der sich selber feiern wollte. Drum ermunterte er einige seiner 900 000 Untertanen, die er zuvor bespitzelt hatte, zur Verschönerung der Feier kritische Kultur beizutragen. Diese verlogene Einladung empörte einige Kulturschaffende. Sie richteten deshalb einen Aufruf an ihresgleichen: «Wir appellieren an all jene Kulturschaffenden, die Projekte für die 700-Jahr-Feier in Auftrag haben, sie abzusagen und die Boykottbewegung zu unterstützen.» Über diesen Aufruf spotteten die freien Medien des Schnüffelstaats nach Kräften. Trotzdem liessen sich 500 verführen und wurden Kulturboykott-Leute… Das Märchen hat keinen Schluss. Es bricht mit dem Satz ab: Und wenn sie nicht gestorben sind, so sind sie doch verstummt. Drum redet heute niemand mehr davon.

Du fragst, warum sich 1990 Leute über staatliche Karteikartenschnüffelei empört haben und zwölf Jahre später sich niemand mehr für die elektronische Schnüffelei des gleichen Staats interessiert? Die politische Neugierde der Kulturschaffenden hatte schon immer eine etwas kurze Halbwertszeit. Das kommt davon, wenn man Politik macht ohne materielle Interessen, aber mit dem Kopf voller Ideale: Unterwegs durch die Schlechtigkeit der Welt ist Empörung ein leer drehender Kompass.

Es gibt eine andere Antwort auf deine Frage. Nehmen wir nur den damals prominentesten Unterzeichner des Boykotts: Max Frisch. Nicht zuletzt seine Staatschutzfiche brachte ihn kurz vor seinem Tod dazu, von der Schweiz als einem «unter der jahrhundertlangen Dominanz des Bürgerblocks verluderten Staat» zu sprechen. Frischs Fiche umfasste für den Zeitraum vom 27. August 1948 bis zum 12. Januar 1990 auf 13 A 5-Karteikarten 84 Einträge. Die Google-Suchmaschine, die auch auf den PCs der Bundesverwaltung läuft, schafft zur Zeit beim Suchbefehl «Max Frisch» in 0,09 Sekunden weltweit 18400 Nennungen, davon 4450 auf schweizerischen Sites.

Und drittens: Was am Schnüffelstaat damals weitherum am meisten interessiert hat, war eben doch die Frage: Haben sie auch mich fichiert? Wer eine Fiche hatte – und viele hatten eine – empörte sich darüber lautstark in der Öffentlichkeit und brüstete sich damit lauthals am Stammtisch. Ziemlich schnell wurden die Fichierten dabei heiser. Heute bespitzelt der Staat mit grosser Wahrscheinlichkeit keine Kulturschaffenden – auch keine Schurnis – mehr, sofern sie Schweizer Papiere haben. Das ist vernünftig, wir sitzen ja in diesem Jahr sowieso alle im selben Solar-Katamaran. Dass der Staat nur noch das unterste Drittel der Gesellschaft im Auge hat, geht deshalb in Ordnung: Wetten, diese Leute haben nicht einmal Geld für einen Expo-Eintritt?

Wenn du mich fragst: Die Expo.02 ist ein spektakuläres, intelligent inszeniertes und vielleicht sogar selbstkritisches Übergangsritual in die Zweidrittelsgesellschaft. Als Schurni kommst du da nicht drum herum.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5