Der Fehltritt von Binggis

Hast du seine Stimme auch im Ohr? Sein sonores Baseldeutsch, wenn er in der «Radio-Musik-Box», im «Spasspartout» oder im «Kaktus» zu hören ist? Jürg Bingler ist ein Mann mit menschenfreundlichem Humor, Satire-Redaktor bei DRS1 seit 22 Jahren; über 500 Mal ist er als Verseschmied «Binggis» aufgetreten. Ein routinierter Radiomacher, der weiss, was drin liegt und was nicht – aber auch, was wirkt. Ein trittsicherer Grenzgänger: Macht er einen Fehltritt, könnte es sein, dass keine Grenzüberschreitung, sondern eine plötzliche Grenzverschiebung vorliegt.

«Hallooo, liebi Lüt!», flötet die Sprecherin, «das isch Schwizer Radio DRS1! Nöi mit über 280 Signet, zähmal meh Wätterfrosch pro Tag und vil meh Verpackig als Inhalt. Schweizer Radio DRS1: jung, smart und luschtig. Schwizer Radio DRS1: ds gröschte Lokalradio vo der Schwiz.» Diese Parodie auf einen DRS1-Trailer hat Bingler für die Satiresendung «Kaktus» vom 1. Mai 2002 geschrieben und produziert. Nach ihrer Ausstrahlung war Radio-intern Feuer im Dach: Der Leiter Ton von DRS1, Walter Kälin, fühlte sich ans Bein gepinkelt, der Programmleiter, Christoph Gebel, gar in die Wade gebissen. Er verfügte, der Autor Bingler sei als «illoyal» zu massregeln. Die Rüge auszusprechen hatte Fritz Zaugg, Leiter Hörspiel und Unterhaltung: Die eigene Firma Betreffendes sei zuerst den Vorgesetzten zur Genehmigung vorzulegen. «Noch so eine Satire und du bist deine Stelle los.»

«Wer sich getroffen fühlt, der war gemeint.» Diese Faustregel für gute Satire stammt von Werner Finck, dem mutigsten deutschem Kabarettisten der Kriegs- und Nachkriegszeit. Zitiert hat sie anlässlich der Verleihung des «Salzburger Stiers» für Kleinkunst in Winterthur am 1. Juni Radiodirektor Walter Rüegg als Pointe seiner Ansprache. Das ärgerte Bingler, der die Radioübertragung dieser Ansprache life und loyal zu moderieren hatte. Deshalb schrieb er Rüegg einen Brief und fragte: «Ist denn Satire noch echte Satire, wenn die Betroffenen diese vorher selber zensurieren, auch wenn es ‘nur’ die Chefredaktion ist?» Rüegg belehrte daraufhin per Mail: Das Wort «Zensur» sei in dieser Geschichte «weiss Gott fehl am Platz», denn er habe nicht vor, seine Weisung, «dass alles, was das Haus über sich selbst berichtet, über das Pult des Chefredaktors muss», als «Zensurmassnahme» zu verstehen. Im übrigen müsse man als Autor «nicht immer Zensur wittern, wenn jemand den eigenen Beitrag nicht so toll findet». Da ist was dran. Gebel hatte ja via Zaugg tatsächlich nicht mit Zensur, sondern bloss mit Entlassung gedroht.

Satire, hat Rüegg in Winterthur definiert, sei «absichtsvolle Alternative zu dem, was bei uns manchmal mit etwas moralinsaurem Unterton und vorwurfsvoll gern als 'Sauglattismus' bezeichnet wird». Eine bemerkenswerte Formulierung, subtil grundiert von jenem Ressentiment, das ehemalige Lokalradio-Cracks wie Rüegg oder sein Adlat Gebel hegen müssen gegen altgediente DRS-Intellektuelle mit ihrer fixen Idee von gehaltvollem Radio. Mag sein, die Formulierung wurde inspiriert vom Ärger über Binglers Trailer-Parodie, die genau diese Tendenz zum Sauglattismus im Staatsradio auf die Schippe genommen hatte.

Mängisch chehrt’s ab auem Träie. Im September hielten nun sowohl der Direktor des Bundesamts für Kommunikation, Marc Furrer, als auch sein Chef Moritz Leuenberger öffentlich fest, Radio DRS3 werde seiner «Zielvorgabe», «amtlich bewilligter Störsender» zu sein, nicht mehr gerecht – Leuenberger stellte einen Beirat in Aussicht, der DRS3 per «diskursiver Qualitätssicherung» an diese Zielvorgabe erinnern solle. Nicht nur Rü­egg und Gebel begriffen: Der Bundesrat prüft Massnahmen, damit das Staatsradio unter dem Stromlinienterror der Einschaltquoten-Fetischisten nicht ganz in Mainstream-Geplätscher und Sprachdurchfall versumpft.

Neue Befehlsausgabe. Quasi folgerichtig hatte Fritz Zaugg als Meldeläufer seiner Vorgesetzten dem Untergebenen Bingler im September Neues zu übermitteln: In gnadenreichem Ratschluss hätten Rüegg und Gebel für richtig befunden, Satire-Beiträge über Sachverhalte, die die eigene Firma betreffen, wieder zu erlauben. Man wird die Neuigkeit interpretieren dürfen als Befehl zur satirischen Selbstkritik als vorauseilender Gehorsam von Radiogenerälen gegenüber einem grummelnden Bundesrat. Die schönste Satire ist eben doch die Realsatire.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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