Warum die minoische Schlangengöttin POCH-Mitglied geworden wäre

 

Die Gründung der Stadt Bern vor achthundertzweiundzwanzig Jahren ist ja jetzt auch schon wieder eine Weile her. Rechnet man noch einmal diesen Zeitraum dazu, sieht man eben das römische Reich untergehen. Und noch einmal achthundert Jahre früher rammen die ersten La Tène-Pfahlbauer ihre Trämel ins Ufer des Neuenburgersees. Verdoppelt man diese ganze Zeitspanne von uns E-Book-Cracks bis zu den Pfahlbauern, dann landet man auf Kreta mitten in der bronzezeitlichen minoischen Welt.

Dieser ersten Hochkultur Europas – der Sage nach ein Matriarchat – hat Beat Schneider, emeritierter Professor für Kultur- und Kunstgeschichte an der Hochschule der Künste Bern, sein neues Buch gewidmet, das zwei herausragende Eigenschaften hat: Es ist klug und kenntnisreich geschrieben und schön und sorgfältig gestaltet.

Bloss: Wer kennt heute Beat Schneider noch? Seit er in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts als Theologe und Aktivist der «Progressiven Organisationen» unsere Altvorderen erschreckt hat, als er von Basel her gekommen ist, um hier eine Sektion der POCH aufzubauen, ist es ja jetzt auch schon wieder eine Weile her. Kurz darauf brachte er es als Politiker gar soweit, dass man ihm in der SVP-Fraktion zuhörte (und ziemlich respektvoll den Kopf schüttelte), wenn er im Grossen Rat das Wort ergriff.

Auf die Dauer konnte der Veränderungswille des Bernbiets dem gesellschaftspolitischen Visionär Schneider freilich nicht vollauf genügen. Darum wurde ihm die POCH-Parole «Leben statt Profit» bald einmal zum Kompass für seine kultur- und kunstgeschichtlichen Forschungen. Er begann die Kulturgeschichte zu betrachten unter dem Aspekt der Herrschaftsausübung «von Menschen über Menschen, vor allem in Form von Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über andere Klassen (Klassismus), des Patriarchats über die Frauen (Sexismus) und der weissen, abendländischen Kultur über die anderen Kulturen oder 'Minderheiten' (Rassismus)». So steht es in seiner vergriffenen «Anderen Kultur- und Kunstgeschichte», die er unter dem Titel «Penthesilea» veröffentlicht hat (Zytglogge 1999). Penthesilea war die Anführerin der Amazonen, die vor Troja im Kampf von Achill erschlagen wurde – für Schneider die sinnbildliche Szene für den Untergang der prähistorischen, matriarchal geprägten Gesellschaften.

Der geheimnisvollsten von ihnen, der minoischen auf Kreta, hat Schneider sein neues, reich illustriertes Buch gewidmet. Inhaltlich ist es zweigeteilt: Einer kulturgeschichtlichen Darstellung der minoischen Welt folgt im zweiten Teil die Beschreibung von fünfzehn Inselreisen zu archäologischen Stätten dieser Kultur.

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Aber, Beat Schneider, hat es denn nun das minoische Matriarchat gegeben? Als Wissenschafter argumentiert er vorsichtig, insbesondere weil die minoischen Schriftzeichen bisher nicht entziffert werden konnten und archäologische Funde nie eindeutig interpretierbar sind.

Um die damalige Gesellschaft als «Matriarchat» zu bestimmen, sagt er, reichten die bisherigen Befunde der Forschung nicht aus. Sicher sei: «Die minoische Gesellschaft war keine patriarchalische Gesellschaft im Sinn einer sozialen, ideologischen und politischen Vorherrschaft der Männer über Frau, Familie, Sippe, Gemeinde und Staat.» Kein «Patriarchat» also.

Und «etwas Aussergewöhnliches und in der Welt Einmaliges» entfaltet Schneider in seinem Buch eindrücklich: Die ausgegrabenen Paläste sind gegen ihr Umland allesamt unbefestigt, also zur Aufstandsbekämpfung nicht geeignet; und statt von monumentaler Machtrepräsentation und waffenstrotzenden Leibgarden erzählen sie mit ihren Kult-, Handwerks-, Wohn- und Lagerräumen eher von einer Art städtischer Gemeinschaftszentren. Einen Zentralstaat scheint es nicht gegeben zu haben. Hinweise auf jeglichen Militarismus fehlen. Im Gegenteil kennt die Forschung den Begriff der «Pax Minoica», des minoischen Friedens. Eine minoische Seemacht hat es zwar zweifelsfrei gegeben, aber offenbar eine, die nichts als friedlichen Handel trieb. Vom sagenumwobenen König Minos, von dem viel später die Historiker Herodot und Thukydides wissen wollen, fehlt archäologisch jede Spur.

Hingegen sind die bisher gefundenen kunstvollen Kultgegenstände und Bilder durchwegs von Frauendarstellungen dominiert. Im Zentrum des minoischen Natur- und Vegetationskults steht offenbar eine Muttergöttin, oft dargestellt mit Schlangen. Ihr zugesellt ist ein jugendlicher, sterblicher Vegetationsgott, der Zeus heisst, aber ansonsten nichts gemein hat mit dem späteren, ewig rammligen Obermacker auf dem griechischen Olymp.

Ich empfehle dieses Buch dringend: Nach dreissig Jahren tiefstem neoliberalem Mittelalter ist Schneiders Blick in «eine Welt, mit [so] viel jugendlicher Anmut, Sinnesfreude und Lebensbejahung» höchst anregend: Plötzlich wird einem bewusst, dass möglicherweise ein bisschen weniger Schicksal ist, als man nach 4000 Jahren Patriarchat fraglos anzunehmen bereit ist. Leben statt Profit? Wäre das nicht eine POCH-Parole gewesen, wär's ein Orakelspruch der minoischen Schlangengöttin.

Beat Schneider: Geheimnisvolles Kreta. Erste Hochkultur Europas. Grenchen (edition amalia) 2013.

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