Michaels Fehrs Texte ohne Grundton – eine kleine Poetikvorlesung

 

Michael Fehr steckt mitten in der Vorbereitung seiner ersten Buchvernissage. Trotzdem hat er Zeit für ein Gespräch in seiner karg eingerichteten Zweieinhalbzimmerwohnung in Ausserholligen. Im einen Zimmer eine Matratze, im andern ein Tisch, drauf der Laptop. Wenige Papiere, keine Bücher. «Ich bin kein Schriftsteller, sondern ein Denker», sagt er – einer, der suche; Schriftsteller dagegen seien Textproduzenten. Dabei macht auch Fehr Texte. Allerdings schreibt er sie nicht: Er ist durch eine seltene Augenkrankheit behindert – juvenile Makuladegeneration –, seine Sehfähigkeit liegt bei fünf Prozent, lesen kann er nur kurz und mit äusserster Anstrengung.

Sein erstes Buch heisst «Kurz vor der Erlösung» und besteht aus siebzehn zum Teil sehr, sehr langen Sätzen. Das seien Sätze, in denen man sich verlieren könne «zwischen dem Erzählerischen und der Fesselung durch das sprachliche Einzelne», wie der Literaturwissenschaftler Stefan Humbel im Nachwort schreibt; Sätze, bei denen man «am Rande der Überforderung» mitverfolge, wie Fehr sie zu «pulsierenden Sprachskulpturen» auftürme, so Alexander Sury im «Bund».

«Bei der Arbeit an diesen Texten», beginnt Fehr selber zu erzählen, «habe ich zu merken begonnen, dass für mich das lineare Schreiben zu wenig ist. Was ich kreieren möchte, ist ein Raum. Denken ist für mich ein räumliches System.» Darum habe er versucht, eine Darstellungsform von Text zu finden, die trotz der linearen Sprachabbildung – Wort hinter Wort – den Denkraum spiegle. Was er anstrebe, sei «ein Geflecht, ein Netzwerk von Wörtern und Wortgruppen». Dieses Geflecht müsse am Schluss halten wie ein Spinnennetz: «Am Schluss soll der Text ein Geflecht von Gleichgewichten mit gewissen Symmetrien bilden. Wie ein Mobile.»

«Um das heilige Haus lag Schnee / in stiller Nacht», heisst es auf der ersten Seite von Fehrs Buchs. Es weihnächtelt, von der Stadt her läuten die Glocken der Kathedrale, es schneit und am Ende von jedem Abschnitt bricht das eingeführte Personal «melodierend und modulierend» in das Gotteslob «Halleluja» aus. Zeitlich simultan zum immer gleichen Glockenklang lässt er neben «Josef und Maria» zum Beispiel einen Bauer, einen König oder einen Männerchor auftreten, aber auch eine «antipopuläre und extraordinäre Musikgruppe» oder eine «Kapelle vom Land», eine «städtische Blechmusik» und ein «Geigensemble von Bälgern». All diese Figuren und Figurengruppen konfrontiert er mit Motiven aus dem Assoziationsraum des «Heiligen Abends» und schaut, was passiert, wenn er sie mit den strengen Regeln konfrontiert, nach denen er seinen Text baut.

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Aber wie schreibt einer, der die Schrift nur mit äusserster Anstrengung für kurze Zeit sehen kann? Fehr schaltet seinen Laptop ein und öffnet ein speziell für ihn konzipiertes Programm, das ihm ermöglicht, Texte sprechend zu konstruieren. Auf einer einzigen Tonspur kann er einzelne Sätze, Satzfragmente und Wörter als nummerierte Kleinstfiles hintereinander reihen. Einschübe und Korrekturen zu machen, ist jederzeit möglich. Seine sehr flinke Demonstration beweist, dass Texte im Zehnfingersystem nicht schneller entstehen. Seit vier Jahren arbeitet er nun mit diesem Programm: «Für mich ist es eine Befreiung. Seither kann ich arbeiten. Zuvor ist ein grosser Teil meiner Konzentration für das Schreiben draufgegangen.»

Inhalt seiner Texte sei, so Fehr, gewöhnlich archaische Geschichte, weil es ja irgendwie immer «um Tod, wer mit wem und Gewalt» gehe. Aber ob die Geschichte, die ihm eingefallen sei, trage, zeige sich erst, wenn er sie mit seinen «kompositorischen Regeln» ausformuliere, wobei für ihn gilt: «Ein Text ist dann fertig, wenn alle seine Regeln erfüllt sind.»

Michael Fehr (*1982) hat dreizehn Jahre lang Schlagzeug gespielt und wollte schon mit sechs Musiker werden. Man merkt's: Über seine Spracharbeit spricht er wie ein Komponist. Sein Text ist eine «Komposition», es geht um «Patterns», um «Sound», «Rhythmus», «Artikulation», «Phrasierung», «Wiederholungen» und «Variationen» – und in seinem ersten Buch setzt er den Begriff «kardinalsrot» als veritables «Leitmotiv» ein. Wichtiger als Sinn und Schriftbild sei ihm für die Variation der «Klang», sagt er. Wie der Komponist mit Akkorden und Tönen, arbeitet er mit Wortverbänden, Wörtern und Silben. Dass sein Buch, wie eine Sinfonie oder ein Streichquartett, aus «Sätzen» besteht, ist kaum ein Zufall und der letzte Satz des Buchs ist eine programmatische Formulierung: «[Er] fand die Tonika nicht und fand die Tonika nicht». Tatsächlich schreibt Fehr eine Art Zwölfton-Prosa ohne Grundton, es gibt in seinen Texten keine Tonika einer sich linear entwickelnden Geschichte. «Kurz vor der Erlösung» stehen bei Fehr nicht mehr die Wörter im Dienst der Geschichte, sondern die Geschichte im Dienst der Wörter.

Aber wie ist denn aus dem gesprochenen Text ein Buch geworden? Das von Fehr produzierte Tondokument des Buchs hat ein Kollege transkribiert. Danach hat Fehr, mit dem eigenen Sprechton im Ohr, das Schriftbild verfolgt, um Orthographie und Zeilenfall der Textgestalt zu überprüfen, was ihm einfacher falle, als Fremdes zu entziffern. Aber wie liest er denn an der Vernissage vor? Ganz einfach: Er spielt sich seinen eigenen Text ab Handy via Kopfhörer ins Ohr und spricht ihn simultan nach.

Der Künstler Michael Fehr ist ein Schriftsteller, der keiner sein will; einer der Bücher macht, ohne sie zu schreiben; einer der Lesungen macht, ohne die Texte zu sehen, die er spricht – und einer, der sagt: «Solange ich mich in Systemen bewegen muss, die präexistent sind, ist mir nicht wohl. Aber wenn ich das System selber schaffen kann, dann bin ich darin geborgen. In einem solchen Kosmos finde ich eine gewisse Heimat.»

Michael Fehr: Kurz vor der Erlösung. Luzern (Der Gesunde Menschenversand, edition spoken skript 10) 2013.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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