Für eine Beinamputation 13 Liter Lebenselixier

 

Wo man nicht überall auf das Insel-Spital trifft! Letzthin ging ich auf dem Weg von Langnau nach Schangnau vom Hüpfeboden Richtung Blapbachweidli. Am steilen Gyrsgrat führte der Fahrweg vor eine Nagelfluhnase, die mit einem Tunnel durchschlagen war. Hinter dem Loch stand ich vor einer kleinen Infotafel: «Hegenloch / Der Tunnel wurde 1839/40 durch die Bauern der Umgebung mit altem Bernpulver ausgesprengt. Einen finanziellen Beitrag leistete auch das Inselspital Bern, das in der Nähe reichen Alpenbesitz besass. Neben dem Urnerloch ist es wohl einer der ersten Tunnel der Schweiz.»

Reicher Alpbesitz... das Insel-Spital? Tatsächlich: Hinter dem Hegenloch gehörte ihm die Vorder-Blapbachalp und die Gross-Horbenalp.[1] Hier hielt man Kühe und Schweine und produzierte so Fleisch für die Spitalkost.

Im Moment trifft man auf das Insel-Spital auch vor dem Bundeshaus-Ost. Kein Wunder: Hier stand es seit der Reformation 1528, zuerst in einem umfunktionierten Dominikanerinnen-Kloster, ab 1724 in einem mächtigen, barocken Neubau. Und auch kein Wunder ist es, dass der Archäologische Dienst des Kantons Bern, der dort zur Zeit Grabungen durchführt, auf einen grossen Weinkeller gestossen ist.

Aber wozu braucht ein Spital Wein? «In Anbetracht der mangelnden Wasserqualität waren Bier und Wein seit dem Mittelalter zentrale Getränke», sagt Hubert Steinke, Direktor des Instituts für Medizingeschichte an der Uni Bern. Geschätzt worden sei der Wein «zur allgemeinen Stimulierung und Kräftigung, als Harntreiber und zur Beruhigung, also als Sedativum» – kurz: Wein sei «Lebenselixier, Arznei- und Stärkungsmittel» gewesen.

Entsprechend hoch war der Verbrauch: Um 1600, als das Spital sein Gesamteinkommen noch in Geld, Korn und Wein auswies, nahm man jährlich 65 Saum Wein ein (zirka 10'800 Liter). Multipliziert man die angegebenen Tagesrationen mit der Zahl der Spitalbetten, muss noch einmal fast halb so viel Wein dazugekauft worden sein.

Die Weingaben wurden in «Mass» à 1,67 Liter bemessen. Normal gewesen sei «ein Vierteli»; Schwerkranke erhielten 3/4 Mass; die Wundärzte (wie man die Chirurgen damals nannte) bezogen eine Fallpauschale an «Operationswein», und zwar zwischen 2 Mass für die Öffnung eines Abszesses und 8 Mass (über 13 Liter) für eine Beinamputation. Bis 1793 erhielten auch kranke Kinder Wein; für die Erwachsenen sanken die Rationen dann von «bis zu einem Schoppen [= 0,375 l] täglich» (1844) auf 0,2 Liter (1928).[2]

Im 20. Jahrhundert sei, so Steinke, «der medizinische Nutzen von Alkohol bald als einer der grossen Irrtümer der Medizingeschichte» betrachtet worden. Allerdings diskutieren Fachleute bis heute, was wir Laien für gewiss halten: dass nämlich das tägliche Gläschen Rotwein zum Abendessen das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verkleinere.

Abgesehen davon sind kranke Laien ja stets gleichermassen abhängig vom aktuellen medizinischen Fachwissen: Um 1900 zum Beispiel war Heroin das angesagte Schmerz- und Hustenmittel; Seit 1960 sind Medikamente der Benzodiazepin-Gruppe (Valium, Temesta, Rohypnol etc.) unter älteren Menschen eine weitverbreitete, stark süchtig machende Droge; und eben letzthin meldete der «Bund», Antidepressiva brächten gegenüber Placebos – also Tabletten ohne Wirkstoff – «eine bestenfalls bescheidene Wirksamkeit» (18.10.2012). Meine Faustregel als Laie lautet deshalb: Medikamente sind jene Drogen, die der Dr. med. verordnet; und Drogen sind jene Medikamente, die auf dem Schwarzmarkt der Dealer verkauft.

Übrigens hat der Archäologische Dienst auch währschafte Handwerkerarbeit unter dem Boden hervorgeholt: eine eiserne Türangel zum Beispiel oder sauber zugehauene und signierte Sandsteinblöcke. Sind um 1724 der Schmied und der Steinmetz einmal in der Kesslergasse drüben beim Feierabendwein zusammengesessen, so werden sie sich einig gewesen sein: Lieber gesund als in der «Insel» – trotz des nigelnagelneuen Weinkellers.

[1]  Hermann Rennefahrt/ Erich Hintzsche: Sechshundert Jahre Inselspital 1354-1954, Bern (Hans Huber) 1954, S. 131.

[2] Die Angaben zum Weinverbrauch im alten Insel-Spital nach Rennefahrt/Hintzsche, S. 75 f., 233, 270, 303, 388 und 490.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5