Brünu, ii miisss youuu, wirde diii NIEEE vergässsäää

 

Das ist die Geschichte von Bruno. Mitte November wäre er 16 geworden. Im Juli ist er gestorben.

Brünu war ein wilder Bub, schon immer. Seine Schulgschpänli hatten schnell raus, wie sie ihn provozieren mussten, damit er einen unterhaltenden Wutanfall kriegte. Er war gut neun, als ein Lehrerkollegium im Berner Oberland befand, dieser Bub sei für ihre öffentliche Schule nicht mehr tragbar. Die Eltern – unterdessen geschieden – beschlossen wegzuziehen. Seither lebte Bruno mit der Mutter und den beiden Geschwistern in der weiteren Agglomeration Berns.

Bruno bleibt ein schwieriger Bub. Einmal verdromet er zusammen mit einem Schulkollegen eine Einstellhalle, einmal wird er mit anderen beim Ladendiebstahl erwischt, und als ihn Polizisten als vierzehnjährigen Töfflifahrer anhalten, ist er betrunken.

Damit man ihn ein bisschen normalisieren kann, macht man ihn ein bisschen krank: Bei einem Aufenthalt in der Jugendpsychiatrischen Klinik Neuhaus wird er wegen seiner Wutanfälle auf das Psychopharmakon Risperdal eingestellt. Vor dem Jugendgericht hat er mehr als einmal zu erscheinen. In Absprache mit der Mutter schickt man ihn in eine Pflegefamilie. Seither wohnt er hinten im Emmental und pendelt mit dem Zug, damit er nicht die Schule wechseln muss.

Weil er ein Schuljahr wiederholt hat, schliesst er im letzten Sommer die achte Klasse ab. In den Sommerferien – dazu hat ihn das Jugendgericht verknurrt – hat er während drei Wochen Schnupperlehren zu machen. Eine als Kühlanlagenmonteur. In dieser Woche wohnt er bei seinem Vater, weil so der Arbeitsweg kurz ist.

Am Freitag, den 20. Juli, absolviert er in der Kältetechnik-Firma den letzten Schnuppertag. Nach vier Uhr nachmittags postet er via Handy auf Facebook: «Super, Wochenende!» Tags darauf beginnen endlich auch seine Ferien.

Gegen fünf trifft er beim Vater ein. Der erlaubt ihm, vor dem Znacht noch ein Stunde nach draussen zu gehen. Als Bruno um sechs wieder eintrifft, steht der Vater in der Küche, macht Hörnli und Ghackets. Ob's noch reiche zum Duschen? fragt Bruno. – Klar. – Als der Vater zehn Minuten später zum Abendessen ruft, bleibt's still. Der Vater schaut nach. Bruno liegt leblos auf seinem Bett.

Der Vater versucht, ihn wiederzubeleben. Schlägt telefonisch Alarm. Die Sanitätspolizisten sind sehr schnell da. Auch sie reanimieren. Bruno ist tot. Polizisten kommen, ermitteln, gehen schliesslich davon aus, dass Bruno zwischen fünf und sechs vermutlich kurz einen Kollegen getroffen habe. Hinweise, die mit dem Tod in Verbindung zu bringen wären, finden sie keine.

Die Leiche ist ins Gerichtsmedizinische Institut überführt worden. Der provisorische Bericht einige Tage später stellt fest: keine Drogen, keine Fremdeinwirkung, kein Hinweis auf Suizid, weder Anzeichen von Herzinfarkt noch Hirnschlag. Vermutlich, sagt seine Mutter, sei es ihm plötzlich übel geworden, Bruno sei keiner gewesen, der sich sonst tagsüber aufs Bett gelegt hätte. Die Ärzte sprechen von Sekundentod. Brunos Asche wird zur Hälfte auf einem Friedhof, zur Hälfte in seinem Lieblingssee weit oben in den Bergen beigesetzt.

Einige Tage vor dem Tod hat er ein Interview gegeben für das Lokalradio RaBe: Gefragt waren seine Erfahrungen als einer, der in einer Pflegefamilie lebt. Versetzt worden sei er, hat er gesagt, weil «Schissdräck» passiert sei. Der Wechsel sei «gewöhnungsbedürftig» gewesen, und am liebsten möchte er wieder nach Hause. Die Stimme eines Jugendlichen hart am Stimmbruch. Die Erlaubnis zur Ausstrahlung des Statements hat nach seinem Tod die Mutter gegeben.

Seither lebt Brunos facebook-Seite weiter. Seine Kollegen und Kolleginnen schreiben immer neue Einträge. Zum Geburtstag Mitte November haben sich die Gratulationen gehäuft: «hei brünu, i denke a dii u a di geili zit mit diir scheiiissse mann es ish so geil gsiii u itz never ever: ((( bish dr beshd♡». Und nie steht der «gefällt mir»-Zähler auf Null. Nur Brünu schreibt nie.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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