Was heisst «soziale Durchmischung»?

Wird in Berns rotgrüner Wohlfühlzone über Stadtentwicklung palavert und mit Wörtern wie «Entmischung», «Gentrifizierung» oder «Segregation» der städtebauliche Teufel an die Wand gemalt, dann gibt es eine probate Überleitung zum schnellen Happy End: die soziale Durchmischung. Wo diese modische Wendung erklingt, ist zwar nichts klar, aber bis zum Ende des Feierabendbiers alles wieder gut. «Soziale Durchmischung» ist eine rhetorische Hohlform, mit der sich trefflich zum Fenster hinaus politisieren lässt.

Nun haben Jan Zychlinski, Dozent an der Berner Fachhochschule/Soziale Arbeit, zusammen mit einem Projektteam die empirische Untersuchung «Soziale Durchmischung: Mythos oder Realität?» abgeschlossen. In einem theoretischen Teil wird untersucht, wie «soziale Durchmischung» in Planung und Architektur, in der Immobilienbranche und in den Sozialwissenschaften verwendet wird. Anschliessend folgt ein empirischer Teil, der aufzeigt, wie der Begriff als städtebauliches Leitbild in der Stadt Bern Verwendung findet.

Grundlage für diesen zweiten Teil waren Gespräche mit Daniel Blumer (Förderstelle gemeinnütziger Wohnungsbau), Alec von Graffenried (Direktor nachhaltige Entwicklung Losinger/Marazzi), Isabel Marty (Sozialplanung in der Direktion Bildung Soziales Sport BSS), Fernand Raval (Leiter städtische Liegenschaftsverwaltung), Jörg Rothaupt (Quartierarbeiter vbg, Stadtteil III), Lena Sorg (Stadträtin), Franziska Teuscher (Direktorin BSS), Alexander Tschäppät (Stadtpräsident, zuständig u.a. für das Stadtplanungsamt) und Mark Werren (Stadtplaner).

Wie ein schöner Begriff zerbröselt

Wie bei vielen wohlklingenden Wendungen beginnen die Probleme, wenn man fragt: Und was heisst das nun eigentlich? Was zum Beispiel heisst «soziale Durchmischung»? Die Studie stellt fest, dass im Zusammenhang mit diesem Begriff «politisch meist dafür, fachlich-wissenschaftlich aufgrund fehlender Evidenz eher dagegen argumentiert wird». Verstehe man «soziale Durchmischung» als Prozess zu einem Ziel, sei er empirisch nicht nachweisbar, verstehe man ihn im Sinn einer politischen Sonntagspredigt als gesellschaftliches Ziel, sei er «nahezu durchgehend positiv konnotiert», woraus eine «scheinbar über das gesamte politische Spektrum nutzbare Unverbindlichkeit des Begriffs» resultiere.

Aber die Doppeldeutigkeit – Prozess oder Ziel – ist nur das eine. Für die SP Bern steht der Begriff zum Beispiel für «soziale, ethnische und altersmässige Durchmischung». Aber wo beginnt die und wo hört sie auf? Wie ist es zum Beispiel mit den Randgruppen aller Grade, von den Stadtnomaden über die Sanspapiers und die Drogensüchtigen bis zum Strassenstrich?

Und: Wie gross ist überhaupt der Perimeter, in dem «sozial durchmischt« werden soll – ist die Rede von einem Strassenzug, einem Quartier, einer Region? Und wie steht es im angenommenen Perimeter mit der Durchmischung der Mietpreise für den Wohnraum, ohne die soziale Durchmischung schnell illusionär wird? Zudem stellt die Studie fest, in den Quellen meine der Begriff oft «die Einbindung von sozial schwierigen (oder sog. ‘benachteiligten’) Gruppen in eine – mittelständische – Normalgesellschaft». Schön. Bloss: Was ist an einer normalisierten Mittelstandsgesellschaft – falls sie denn politisch realisierbar ist – schliesslich sozial durchmischt (unter diesem Aspekt spricht die Studie vom «Paradox der Homogenisierung des Heterogenen»)?

Schliesslich zeigen die empirischen Daten, dass Stadtentwicklungsprozesse im Richtung sozialer Durchmischung «nur schwer zu steuern» sind. Auch jene, die sie politisch fordern, wissen nicht genau, was in den Bereichen Wohnungsbau, Weiterentwicklung der Infrastruktur (z. B. Schulen) oder öffentlicher Raum zu fordern ist, damit im weiteren Stadtentwicklungsprozess mit Sicherheit soziale Durchmischung resultiert.

Kurzum: «Soziale Durchmischung» wird als Begriff diffus verwendet, ist in der Konsequenz ein Paradox und politisch kaum operationalisierbar.

Gefragt ist ein neuer Ansatz

In den «Empfehlungen für die Praxis» hält die Studie fest, «dass hinsichtlich weiterer Stadtentwicklungsprojekte und -strategien ein vages Konzept von sozialer Durchmischung langfristig nicht tragfähig ist». Nötig sei deshalb «die Entwicklung und Etablierung eines neuen, den aktuellen Erfordernissen entsprechenden konzeptionellen Ansatzes».

Dieser neue Ansatz müsse Prozess und Zielvorstellung auseinanderhalten sowie abgegrenzt und damit anschlussfähig sein an Begriffe wie «Nachhaltigkeit», «Lebensqualität» oder «Integration». Die Forschung nach diesem neuen Ansatz müsse in Theorie und Praxis vorangetrieben werden «im Sinne von Handlungsforschung»: «Sinnvoll und notwendig» sei zum Beispiel «eine Untersuchung der konkreten Wechselwirkung [zwischen] öffentlicher Planung und […] operativer und strategischer Planung von Immobilien- und Bauwirtschaft».

Die Studie lehrt: Gerade beim Feierabendbier sollte man nicht vergessen, dass auch Bern Teil der kapitalistischen Wirtschaftordnung ist und die Stadt im Abendschein von Begriffen wie «sozialer Durchmischung» bloss aussieht wie eine rotgrüne Oase. Auch wenn Berns bürgerliche PolitikerInnen nach allem, was man weiss, zur Zeit nicht mit intellektuellen Überfliegern gesegnet sind, reicht es auf die Dauer nicht, sie im Stadtrat routinemässig zu überstimmen. Man sollte sich immer auch ein bisschen um die besseren Argumente bemühen und um die Begriffe, die sie darstellen sollen. Die Studie der Berner Fachhochschule legt nahe, dass «soziale Durchmischung» noch kein besseres Argument ist und bietet deshalb im Bereich der Stadtentwicklung einen ausgezeichneten Denkanstoss.

Jan Zichlinski, Sanna Frischknecht, Ulrike Franklin-Habermalz, Christian von Büren: Soziale Durchmischung: Mythos oder Realität? Eine empirische Untersuchung eines städtebaulichen Leitbildes am Beispiel der Stadt Bern. Berner Fachhochschule/Soziale Arbeit (15.5.2015)

Diesen Beitrag hat der Leser «Filip» auf Journal B wie folgt kommentiert:

«Wenns darum geht, die besseren Argumente zu haben, lässt sich auch bereits das Konzept und Intention der "sozialen Durchmischung" kritisieren. (Und nicht die fehlende Möglichkeit der Umsetzung). 

Es soll verhindert werden, dass sich Ghettos bilden, also eine Ansammlung von Leuten, die als die "Schwachen" der Gesellschaft gelten. Wie das ausgehen könnte, sieht Otto Normalbürger an den Zuständen in den franz. Banlieueus. Mit der Durchmischung wird eine "Befriedung" betrieben, weil a) sich die unteren Klassen nicht verbinden (durch konzentriertes Wohnen in einem Viertel z.Bsp.) und b) dieselben nicht sichtbar werden (weil gut verteilt). 

Man merkt zwar, dass da Missstände sind, aber anstatt die dafür verantwortlichen gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen, wird "Pflästerli-Politik" betrieben. Das ist heute zwar typisch rotgrün, aber zumindest rote Politik sah mal anders aus…»

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