«Warum immer wir!»

Schreibt einer einen Romanerstling: «Marcel Konrad, 1954 in Luzern geboren und aufgewachsen, lebt als Lehrer in Schötz. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.» Schreibt also einer, ein Schulmeister aus dem Luzernischen, einen Wälzer, schreibt wie einer, der die letzten zehn oder hundert Jahre von aller Welt abgeschirmt gewesen ist, kein Fremdwort, kein Reizwort, keine Parole. Kein «Beton» und kein «1984». Keine AKW’s» und kein «No future». Keine «gesellschaftspolitische Situation» und kein «sozio-kulturelles Umfeld». Produziert einer einen Anachronismus: Erzählt Geschichten, als ob man das heute von einem Erzähler noch verlangen dürfte, dass er Geschichten erzählen kann. Nimmt eine Geschichte, die andere auf viereinhalb Seiten mit Längen ausgewalzt hätten und kann sie auf 479 Seiten nur ansatzweise darstellen, vieles bleibt offen.

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Stell dir vor: Als Gerüst ein Spielfeld, Figuren, eine Konstellation. Zeit? Eine Zeit, in der man die Kleinen fing und die Grossen laufen liess. Ort? Hügelland, Wälder, Felder. Das Spielfeld? Ein Bauernhof, Haus mit Stall, daneben ein Schuppen. Die Figuren? Der Vater, die Mutter, die Schwester, der Junge. Später: der Onkel. Später: der Pfarrherr. Dann: die Dorfmänner, drei Stadtmänner. Die Konstellation? Der Vater säuft, ist verzweifelt, gewalttätig, die Mutter streng, gläubig duldend bis an den Mord. Die Schwester hat zu tun, was ihr gesagt wird. Der Junge hat zu tun, was man ihm einprügelt. Er steht im Zentrum der Konstellation: Er erzählt, seine Geschichte und seine Geschichten, die er gegen seine Geschichte gerichtet hat. Die Spielregeln? Ergeben sich aus der Konstellation, bis auf die eine: Man kann mit dem Tode bestraft werden.

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Der halbwüchsige Junge erzählt: Von den Schlägen des Vaters, die ihn durch den eintönigen Alltag prügeln; von seinen Tagträumen, in denen er als «Mann» liebt und als rächender Held, als schwarzer Reiter um das «Recht» kämpft; von seiner Krankheit, die er eines Nachts entdeckt; als sein Urin plötzlich weiss und weich und schleimig wird; von seiner Mutter zwischen den dampfenden Töpfen in der Küche, zusammen mit der Schwester gebückt auf Unkrautjagd im Garten, nackt vor dem Spiegel, eines nachts durchs Schlüsselloch erspäht; vom fetten Onkel aus dem Tal, der auf den Hof kommt, als der Blitz den Schuppen in Brand gesteckt hat und fast gleichzeitig der Vater verschwindet; von den ruhigeren Tagen, die dann folgen und davon, dass plötzlich der verschwundene Vater zurückkehrt: rächend aus dem Güllenloch. In diese Geschichte hineingeschnipselt: Die letzten Tage und Stunden des Erzählers, Jahre später, in der Todeszelle, wartend auf die Vollstreckung des Urteils: Auf Vergewaltigung und Mord steht der Tod. Dazwischen, angetönt, seine Jahre als Verdingbub, als Strolch, als Bettler, übernachtend in Wäldern, auf dunklen Friedhöfen zwischen Grabsteinen den Frauen auflauernd.

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Im «Sexualität KONKRET» 1983 hat Carmen Capezzoli einen Text mit der Frage begonnen: «Geht es Ihnen auch so? Fällt es Ihnen auch schwer, sich einen Schweizer bei der Liebe vorzustellen?» Sie kommt auf die neue Schweizer Literatur zu sprechen und konstatiert, dass es in diesen Büchern, die schöne Zähne zeigten, aber nichts zu beissen, einen Eros nur noch «zwischen Glasfiguren in Vitrinen» gebe: «Um es hochdeutsch zu sagen: In keinem dieser Bücher wird noch gefickt. Sex ist Anlass allenfalls noch für Arabesken.»

Gefickt wird in Marcel Konrads Buch nur einmal, als der Junge durchs Schlüsselloch den fetten Onkel bei seiner Mutter beobachtet: «Der Pfarrherr hatte mir das berühren verboten, diese beiden lagen nun sogar aufeinander, von oben bis unten nackt! Und sie lagen nicht still, nein, der Onkel bewegte sich, als wollte er seinen, ja, gegen die Mutter schlagen, ihn gegen sie stossen, ihn…wollte er das?! Ihn in das Loch?!÷ Diese Beobachtung unverständlicher und offensichtlicher Gewalttätigkeit, ist nur eine kleine Episode auf dem Weg zur Zerstörung seiner Sexualität. Da ist auch ein geiler Pfaff, der beim Beichten vom Jungen jene Geschichten hören will, die ihm – hinter dem Rücken des Jungen – das Wichsen erleichtern; da ist, bis zwischen die Zeilen hinein, jener ländlich-verschwiegene, in sich hineingefressene Traum warmer schwitzender Körper im Staub; da ist das verborgen zum Trocknen aufgehängte Nastuch mit der fleckigen Nässe des weissen Urins, der Krankheit, die den Jungen umso mehr ängstigt, als er merkt, dass sie ihm Lust zu bereiten beginnt. Konrads Buch ist eine wichtige Antwort an Cappezoli, warum in der Schweizer Literatur nicht öfter mal gefickt wird.

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Erst, wo jede Lust, jede Sinnlichkeit zerstört ist, wird wirklich nach den Buchstaben des Gesetzes (und wäre es ein ungeschriebenes) bestraft und die einzige Autonomie der kleinen Leute ist jene der eigenen Lust, die mit Einsatz des Lebens verteidigt werden muss: Nur indem der Zutodeverurteilte vor den Augen des salbadernden Pfaffs zu wichsen beginnt, kann er am Morgen der Hinrichtung den ungebetenen Gast aus seiner Zelle vertreiben: Dies ist seine letzte Freiheit. «Was sitze ich hier und end es nicht selber?  Mit mir wird getan», überlegt er einmal. Und seine Schwester – inzwischen selber mit einem Säufer verheiratet und selber Mutter – sagt bei ihrem letzten Besuch beim Bruder im Gefängnis: «Ich kann es nicht glauben! Es darf nicht wahr sein! Warum immer wir!» Warum gehen die kleinen Leute, Generation um Generation, immer wieder ähnlich vor die Hunde? Und wenn es nicht die «Erbsünde» der Pfarrherren ist, was ist es dann? «Wir haben das Fragen längst aufgegeben, oder besser, das Hoffen auf Antwort.»

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Einfach zu sagen: Was der Konrad (der Skeptiker und – in seinen schwächeren Passagen – Pädagoge) gemacht hat, das darf man ja gar nicht: Glaubt nichts, auch nicht den linken Minimalkonsens, wonach die Welt zu verändern wäre, liesse man nur uns machen; schert sich nicht um den Grabenkrieg sich bekämpfender Realismen, richtet einen grossen erratischen Block auf, unübersehbar und – möglicherweise – tabu, bis irgend ein Vordenker ihn handhabbar macht mit der Schublade eines Sammelbegriffs; lässt seine Sprache strömen, ironisch gebrochen, barock verschnörkelt, breit fliessend, warm und weich sich ergiessend, den Ideologen suspekt, schon vermutet man eine unbekannte Krankheit, und doch spürt man die Lust – klammheimlich – beim Lesen.

Was es noch zu meckern gäbe: Die paar inhaltlich dünnen Passagen, Übergänge, denen man anmerkt, dass sie nur um des Übergangs willen hier stehen oder die ärgerlich vielen Druckfehler in dem ansonsten bemerkenswert schön aufgemachten Buch: Das überwiegt nicht. Das Buch ist interessant genug, um als konsequent durchgeführter und kunstvoll ausgearbeiteter Diskussionsbeitrag ernst genommen zu werden und das Buch unterhaltend genug, um von all jenen gelesen zu werden, die eigentlich sowieso schon lange wieder einmal ein Stück Schweizer Literatur lesen wollten.

Marcel Konrad: Stoppelfelder. Roman, Zürich (Ammann-Verlag) 1983.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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