Vom Erträumten und vom Versäumten

 

                                                                                                 9. August 2014

Liebe Marie-Luise

Vor vier Monaten hast Du mir Dein Buch «Asseblick» in den Milchkasten gelegt mit einer Karte, die eine Schwarzweiss-Fotografie von Adolf Wölfli zeigt, der selbstbewusst neben einem mannshohen Stapel seiner «Hefte» stehend auf ein eigenes grossformatiges Bild zeigt, das schräg über ihm an der Wand hängt. Auf die Rückseite der Karte hast Du geschrieben: «Hier nun also mein Buch – danke fürs lesen / schauen.» Ich habe seither immer wieder gelesen und geschaut und bin nicht fertig geworden damit.

Du hast ein rätselvolles Buch gemacht.

Ist es ein persönlich gestaltetes Sachbuch über die undichte Schachtanlage Asse II bei Remlingen in Niedersachsen? Eine Dokumentation über 126000 Atommüllfässer, die in kontinuierlich einsickernder Salzlauge stehen – mit einer Fotostrecke, die eindrücklich ober- und unterirdische Remlinger Abgestorbenheiten dokumentiert?

Oder ist das Buch die Autobiografie einer Frau, die am 20. Mai 1945, kaum vierzehn Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in diesem Remlingen in eine prekäre Heimat hineingeboren worden ist und heute – als «dauerhaft befremdetes Kind», das nicht weiss, was es unter Erwachsenen sollte, «die imstande waren, sind» – diese prekäre Heimat erkennt als verseuchte und endgültig velorene: «[…] am / ende / gilt / nicht das / erträumte sondern / das versäumte und der / schacht / ist meine nacht»?

Oder ist das Buch doch eher ein Lyrikband, der schmal und mehrheitlich aus Prosatexten bestehend, nichts weniger ist als Dein Opus magnum? Ein Opus magnum, das den Bogen schlägt vom «knarrenden Weidenkorb», in den man Dich nach der Geburt gelegt hat, und den frühen Wörtern, die Du lerntest: «[…] verg essen / gas / der geruch / sirenen / fluch zeuge»; den Bogen schlägt über das Auditorium Maximum der Technischen Universität in Westberlin, wo Ulrike Meinhof im November 1968 «im grauen Kapuzenmantel und mit tiefhängenden Ponyfransen» ins Mikrofon sagt: «Von nun an wird zurückgeschlagen –»; einen Bogen schlägt bis in die «France profonde», die Auvergne, wo Du nun «neuerdings einige Beete» bewirtschaftest und die Vorteile von Kompostklos zu schätzen gelernt hast, weil – solche Klos vorausgesetzt – jeder Mensch, dem man begegnet, doch immerhin ein «Produzent von Kompost» ist.

Wirklich: Was hast Du für ein rätselvolles, vielschichtiges Buch geschrieben!

Ein Buch, das aus sehr dispersen Fragmenten den luziden Schein eines Ganzen entstehen und gleichzeitig keinen Zweifel lässt, dass das Ganze im Sinn einer 700seitigen selbstgerecht-patriarchalen Autobiografie der unrettbar falsche Schein wäre. Ein Buch, das die existentielle Unbehaustheit des Ichs – von der nachkriegsdeutschen Kargheit bis zur heutigen, «bourgeoisen Lebensweise» der Mehrheit als «dem Planeten zunehmend unzuträgliche Ausnahme» – jederzeit an die materielle Wirklichkeit zurückbindet, und so die Darstellung vor idealistischem Schwurbel abgrenzt und schützt. Ein Buch, in dem etwas von dem melancholischen Wissen steckt, wie man zurückschauen kann, ohne zu versteinern (eben: mit dem Asseblick). Ein Buch, zu dem ich zurückkehren werde, weil ich weiss, dass es mich über diese Tage hinaus etwas angeht.

Wie selten sind solche Bücher.

Ich habe aus Deinem Buch immer deutlicher eine Frage herausgelesen: Wie ist es möglich, Menschen davor zu bewahren, irgendetwas zu erhoffen und sie – gleichzeitig und trotzdem – zu ermächtigen, alles dafür zu tun, die Welt so zu verändern, dass Hoffnung möglich werden könnte? Diese Frage kann man nicht lehren. Man kann sie nur lernen. Ich habe sie in Deinem Buch gelernt (mag sein: Ich bin ihr hier wiederbegegnet und Dein Buch hat mir geholfen, sie zu formulieren).

Liebe Marie-Luise, ich danke Dir dafür, dass Du mir Dein Buch in den Milchkasten gelegt hast. Ich werde es in Ehren halten.

fredi

Marie-Luise Könneker: Asseblick. Fotos von Ernst Fischer, Biel (verlag die brotsuppe) 2013.

Aktuell

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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