Pedro Lenz reist durch sein Mittelland

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«I läbe zmitts drinne. Zmitts i däm Land. Zmitts im mittlere Mittuland. Zmitts i dere Zit. Zmitts i däm Läbe. Zmitts in däm Autag. Zmitts unger dene Lüt.» Das sind die ersten Worte aus dem Off des Films «Mitten ins Land». Der Schriftsteller Pedro Lenz spricht sie. Im Bild sitzt er im ersten Stock des Restaurants «Flügelrad» hinter dem Bahnhof Olten, wo er wohnt, arbeitend am Laptop. Und in der nächsten Einstellung eilt er aus dem Haus und auf den Zug zum nächsten Auftritt: «Mis Läbe isch fahre», sagt er mehr als einmal.

Charakterköpfe aus der Agglo-Schweiz

Nach und nach werden die Leute vorgestellt, zwischen denen sich Lenz in diesem Film bewegt.

Da ist die Lokomotivführerin Jeannine Kiefer, gelernte Coiffeuse, nebenbei Armbrustschützin, die während der Dreharbeiten Mutter wird und bewundernswürdig abgeklärt von jenem «Personenunfall» erzählt, den sie im Führerstand miterlebt hat.

Da ist Volkan Inler, Mitarbeiter des Werkhofs Olten, daneben Spieler und Juniorentrainer beim FC Trimbach, der zur Zeit im Schatten seines jüngeren Bruders Gökhan steht, dem Captain der Fussballnationalmannschaft.

Da ist Marcel Hotz, seinerzeit Spitzenruderer, der auf dem Areal der ehemaligen Sondermülldeponie Kölliken am Rückbau des wohl grössten schweizerischen Umweltskandals des 20. Jahrhunderts arbeitet.

Da sind Yolanda Biefer und Dolores Linggi, die beiden Servierfrauen im Restaurant «Flügelrad», die bis vor kurzem im Vorstand des Schweizerischen Zwillings-Vereins mitarbeiteten und heute zu dessen Ehrenmitgliedern gehören.

Da ist Cédric Wermuth, der während der Dreharbeiten Wahlkampf macht, SP-Nationalrat wird, im Parlament die 1:12-Initiative verteidigt und in einer Podiumsdiskussion Christoph Blocher alt aussehen lässt.

Und immer wieder ist da Pedro Lenz: Lenz an der Arbeit, Lenz unterwegs, Lenz im Studio, Lenz auf dem Podium, zum Beispiel mit seinem Programm «Dr Goalie bin ig» und Christian Brantschen am Flügel (dem mit seinem sanft melancholischen Klaviersound eine sehr sympathische Filmmusik gelungen ist).

«Oute isch ir Mitti. […] Und mängs isch nächer, aus me meint», sagt Lenz. Und tatsächlich hält der Film die Porträtierten nicht durch private oder gar familiäre Bande zusammen, sondern suggeriert, dass die sozialen Räume so überschaubar seien, dass man sich halt einfach ab und zu treffe. Man erhält den Eindruck, der Jurasüdfuss zwischen Olten und Aarau sei unterdessen zu einem Quartier der weitläufig-anonymen, mittelländischen Agglo-Schweiz zusammengewachsen. Der kritische Diskurs in der Enge ist abgelöst durch das Bild lebenswerter Kleinräumigkeit.

Unaufdringlich und geschickt inszeniert die Regie den Kontakt als Alltäglichkeit: etwa wenn sich Jeannine Kiefer mit ihrem Baby und einer Freundin in der Gaststube des «Flügelrads» einen Kaffee servieren lässt. Wenn sich Wermuth (FC Nationalrat) und Lenz (Fussballspielende Autoren der Schweiz) bei einem Hallenfussballturnier in Magglingen treffen (und gegenüberstehen). Wenn Lenz neben Juniorentrainer Inler im Schneegestöber steht und sorgenvoll blickt, als die Knirpse des FC Trimbach in Rückstand geraten. Oder wenn er hinter einer Scheibe Hotz beobachtet, der als luftdicht geschützter Astronaut in der giftigen Kölliker Mondlandschaft Bodenproben sammelt.

Marionettenspieler auf Augenhöhe

Pedro Lenz wird in diesem Film nicht nur als einer der Porträtierten, sondern auch als Reiseleiter gezeigt, der im Off die gezeigten Bilder poetisch kommentiert. Dabei demonstriert er, dass er unterdessen seinen Stil – die stabreimende, klangassoziative Aufzählrhetorik mit quasi in musikalischem Sinn kadenzierender Pointe am jeweiligen Phrasenschluss – bis an die Grenze des Manierismus beherrscht. Spoken word im Volksliedton, sozusagen.

Die Montage des Films erhält durch diesen doppelten Lenz etwas Widersprüchliches: Einerseits behauptet sie, sie zeige den Schriftsteller Lenz als einen, der sich wie selten einer auf Augenhöhe «zmitts unger dene Lüt» bewege, deren Realität ihm den Stoff liefert für seine Texte. Andererseits ist der Film so montiert und vertont, dass fünf Porträtierte zu Marionetten werden, an deren Fäden Lenz als Marionettenspieler zu ziehen scheint.

Erst wenn Lenz gegen Schluss – es ist der 1. Mai 2012 – auf dem Zürcher Bürkliplatz als Kollege zu den Kollegen und Kolleginnen spricht, die er als «Eidgenossen und Fremdgenossen» anspricht und ermuntert, wieder weniger «Konsumenten und Konsumentinnen» und mehr «Genossen und Genossinnen» zu sein, wird in der Art, wie er das tut, klar, dass er tatsächlich Wortkünstler auf Augenhöhe mit seinem Publikum zu sein versucht. (Die Rede, die er damals hielt, ist es wert, integral angehört und angesehen zu werden – man sieht hier links im Bild übrigens, wie Kameramann Norbert Wiedmer die Bilder macht, die in «Mitten ins Land» zu sehen sind.)

Lenz’ Reise durch sein Mittenland ist ein unterhaltender Film, der dazu ermutigt, bei der nächsten Bahnfahrt nach Zürich zwischen Olten und Aarau trotz Endlosagglo und Kühlturm wieder einmal aus dem Fenster zu blicken. Die Formulierung, die als Film-Motto stehen könnte, hat er übrigens für seinen allerletzten Satz aus dem Off aufgespart: «Mis Läbe isch Fahre, und mängisch fahrt’s mer i.» 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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