Nieder mit dem Drückebergerdeutsch!

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Seit das literarische Netzwerk «Bern ist überall» vor zehn Jahren als Beilage zur Spoken Word-CD «Im Kairo» ein Manifest veröffentlicht hat, weiss man: «Bern ist überall» ist mehr als eine Gruppe von Autorinnen und Autoren, die in wechselnder Formation dem Wort eine Bühne geben – «Bern ist überall» steht auch für eine sprachpolitische Position. Mit «Mut zur Mündigkeit» hat Beat Sterchi sie nun in einem grossen Essay aus seiner Sicht auf den Punkt gebracht.

«Alle Sprachen sind gleichwertig»

Die Sprache, die wir tagaus tagein reden, einfach weil sie als Muttersprache unser nächstliegendes Verständigungsmittel ist, gilt wenig, weil sie «in der Schule klar von der Hochsprache getrennt, uns im Schulaufsatz nach Möglichkeit abtrainiert, in der Sprachen-Hierarchie zur Zweitsprache degradiert wurde und in der Bundesverfassung offiziell gar nicht existiert.»

Dass das so ist, hat damit zu tun, «dass es an sprachlichem Selbstbewusstsein fehlt». Dieses Selbstbewusstsein ist «diesseits der Saane» vom Komplex geknebelt, «dass die eigene Sprache des Alltags eigentlich ja doch keine vollwertige Sprache» sei. Der Komplex sei den Dialekten «gewissermassen eingebaut»: «Nach den ihnen permanent widerfahrenden Abwertungen werden sie unbewusst längst nur noch als Rumpfsprachen, als Seitenwagen der ‘richtigen’ Sprachen wahrgenommen.»

Folgerichtig widerspricht Sterchi der Wissenschaft, wonach die deutschschweizerischen Umgangssprachen und die Hochsprache «eine Sprache in zwei Formen» seien: «In der Praxis, das heisst im Alltag der zwischenmenschlichen Verständigung, geht es um zwei Sprachen. […] Das Modell der doppelten Muttersprache [ist] über das Papier hinaus, auf welchem es in Akademia so fleissig weiter- und rumgereicht wird, wertlos.»

Einer von Sterchis zentralen Sätzen lautet: «Alle Sprachen sind gleichwertig.» Und daraus ergibt sich: «Mindestens für mich ist klar, dass meine Alltagssprache meine Muttersprache ist, und dass ich meine Schrift- und Hochsprache als meine erste Fremdsprache betrachte.»

«Jede Sprache ist eine Brücke in die Welt»

Sprachpolitisch setzt Sterchi insbesondere auf die Erziehung. Für die Alltagssprache fordert er «Verankerung und Gewicht im Lehrplan» der Schulen. Die Kinder sollen das als normal erleben, was er für sich einfordert: «Mein Recht, mich auch in meiner eigenen Sprache zuhause fühlen und mich durch sie definieren zu dürfen.» (Dieses Motiv gewichtet auch Pedro Lenz, wenn er das Vorwort des Buches unter den Titel «Vom Daheimsein in der Sprache» stellt.) Jedoch plädieren weder Sterchi noch Lenz für einen sprachlichen Ballenberg. Es geht nicht darum, dass nur noch eine sprachpolizeilich sanktionierte Alltagssprache gesprochen werden soll: «Jede Sprache ist eine Brücke in die Welt». Aber beide wollen, dass «die eigene Sprache» als Sprache wahrgenommen und selbstbewusst gesprochen wird. Nur so ist es möglich, das Hochdeutsche als erste Fremdsprache zu sehen, die man mit deutschschweizerischem Akzent und mit Helvetismen versetzt sprechen darf, ohne leer schlucken, stottern oder rot werden zu müssen.

Sterchi sieht Fortschritte, insbesondere mit Blick auf literarische Arbeiten von jüngeren AutorInnen. Es sei offensichtlich, resümiert er, «dass die hiesige Textproduktion aus ihrer sprachpolitischen Erstarrung erwacht» sei und das «Mundartghetto» gesprengt habe. Keck behauptet er als Doyen des «Bern ist überall»-Netzwerks: «Das von hinter sieben Hecken hervorgewürgte Drückebergerdeutsch hat ausgedient!»

Den Schwung der aktuellen sprachemanzipativen Bewegung führt Sterchi übrigens auf Friedrich Dürrenmatt zurück, von dem er folgende Episode erzählt: Dürrenmatt sei bei Proben des Theaterstücks «Romulus der Grosse» von einem deutschen Darsteller damit konfrontiert worden, dass der Begriff «Morgenessen» in Dürrenmatts Vorlage einfach nicht deutsch sei – es müsse «Frühstück» heissen. Prompt schrieb der Autor die Passage um. Er liess Romulus zwar weiterhin «Morgenessen» sagen, aber den Zeremonienmeister antworten: «Exzellenz, es heisst Frühstück.» Darauf Romulus: «Was klassisches Latein ist in diesem Haus, bestimme ich.»

Darum geht’s Sterchi mit seinem Essay.

Beat Sterchi: Mut zur Mündigkeit. Vom Lesen und Schreiben in der Schweiz. Langenthal (Edition ADHOC) 2016.

 

[Kommentar]

Alle dürfen «Gotthäuf» sagen

Beat Sterchi hat einen argumentativ konsistenten Essay geschrieben, der nicht zuletzt in den ironischen Skizzen von Sprachgewaltigen in Politik, Literaturbetrieb, Schulstuben, Medien und Theatern höchst vergnüglich zu lesen sind. Für mich bleiben nach der Lektüre Fragen zur Idee einer «eigenen» Sprache, in der man sich zuhause fühlen solle:

1. Sprache besteht aus Wörtern. Wörter sind Laute, von denen die Konvention fordert, dass alle das Gleiche darunter verstehen und die Machtverhältnisse, die der Sprache eingeschrieben sind, dafür sorgen, dass das immer nur ungefähr so ist. Wenn die Redenden diesseits der Saane im Umgang mit der Standardsprache schnell verunsichert sind, hat das nicht nur mit mangelndem sprachlichem Selbstbewusstsein, sondern auch mit diesen Machtverhältnissen zu tun. Beispiel: Seit 2004 arbeitet man an der Universität Bern an der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe Jeremias Gotthelfs. Unter dem Aspekt des Einbezugs von Muttersprache in die literarische Hochsprache gibt es in der ganzen Deutschschweizer Literatur kaum ein interessanteres Werk. Trotzdem wurden zwei muttersprachlich hochdeutsche Fachleute mit der Projektleitung betraut. Das heisst: Um Bitzius’ literarischen Umgang mit seiner Muttersprache wissenschaftlich zu interpretieren, genügt es aus Sicht der Verantwortlichen, das Berndeutsche als Variante der deutschen Sprache vom Hörensagen zu kennen. Andersherum: Alle dürfen in Bern selbstbewusst «Gotthäuf» sagen, aber wer mitreden will, muss sich unterziehen, «Gotthelf» zu gaxen – und nicht umgekehrt.

2. Hegemoniale Sprachen sind jene, die die Macht haben zu kanonisieren, was gültig gesagt und was Lärmbelästigung ist. Diese Funktion hat im deutschsprachigen Raum die hochdeutsche Sprache. Bloss: Die Bedeutung des deutschsprachigen Raums nimmt seit Jahrzehnten ab. Die Lingua franca, in der immer häufiger nicht nur touristische Bedürfnisse geäussert, sondern die massgeblichen Diskurse geführt werden, ist in unseren Breitengraden die englische Sprache. Insofern wäre Sterchi zu fragen, ob er sich nicht über einen immer kleiner werdenden Nebenwiderspruch echauffiert. Ist es nicht so, dass wir «Gotthäuf»-Sager froh sein müssen, dass die AkademikerInnen, die unter Ausschluss der bernischen Öffentlichkeit daran arbeiten, den «Gotthelf» wissenschaftlich anschlussfähig auszudeutschen, ihre gewichtigen Kommentarbände nicht schon heute in New York und auf Englisch publizieren? 

Klar, Sterchi spricht in erster Linie von einer Art Zweiklassensystem in  der mündlichen Praxis und ermuntert die bauerndeutsch radebrechenden Eingeborenen zur Emanzipation. Das ist schön. Aber interessanterweise ist der Essay in der kanonisierenden hochdeutschen Sprache abgefasst. Sterchi schreibt dazu, ihn auf Berndeutsch zu schreiben, hätte bei ihm Schwindelgefühle ausgelöst, weil er dafür «weder Modelle, noch Vorbilder, noch den Mut, noch die Fertigkeit» gehabt hätte. Fehlte demnach sogar dem erfahrenen Schriftsteller das sprachliche Selbstbewusstsein? Oder ging es ihm um die diskursive Anschlussfähigkeit des Textes, der in den massgebenden Kreisen selbstverständlich höchstens dann zur Kenntnis genommen wird, wenn er statt «Gotthäuf» «Gotthelf» sagt?

Aktuell

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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