Heile kaputte Welt

Spät in der Nacht ruft Piet Atten, der Liedermacher, an, betrunken «auf einem Bettrand sitzend, rauchend, Kornflasche auf dem Nachttisch, neben ihm irgendein Mädchen, das schläft.» Manne Kröger geht an den Apparat, Kröger, der als Roadie mit Atten jahrelang durchs Land gezogen war, bis er damals, nach einem Konzert, in der Garderobe überfallen und um die Einnahmen des Abends erleichtert worden war. Atten hatte getobt, Kröger sei der behämmertste, beknackteste, unfähigste Roadie, der… Was Kröger nicht weiss in dieser Nacht am Telefon: dass Atten die maskierten Typen selbst geschickt hatte, um ihn loszuwerden. Was Kröger weiss: Dass er, obschon ihm Atten die Ohren vollklönt – «Mir geht’s schlecht, innwendig» –, nicht mehr losziehen wird mit dem Liedermacher. «Also tschüss, ich muss jetzt schlafen», sagt er und legt auf.

Doch sie kommen nicht los voneinander nach diesem Telefongespräch. Wechselweise beginnen sie, ihre gemeinsame Geschichte zu erzählen, Kapitel um Kapitel, jeder aus seiner Sicht. Manne, der Kommunist, dessen «Idol der Maschinist aus der Gusseisenzeit», für den «die Verknotungen und wuchernden Gewächse in uns» bloss «Ablenkung vom Klassenkampf» ist. Manne, der noch an das Familienglück glaubt, der zurückkehrt nach seinen Roadie-Jahren zu seiner Frau und seiner kleinen Tochter, zu seinen Leuten: «Die Frauen trugen weisse Schürzen, deckten die Tische unter den Bäumen. Ich stand da im Garten, fühlte ein Ziehen vom Magen her in den Hals. Zuhause, dachte ich, das ist Zuhause.»

Auf der anderen Seite Piet Atten, eigentlich Peter Attendorp, der nachzuweisen versucht, dass er vom hugenottischen Insurgenten Fernand Atten d’Orb, abstammt, der im Dezember 1702 die linke Flanke führte beim Scharmützel gegen die Garnison von Alais. Atten, der mit RAF-Leuten in Zusammenhang gebracht wurde und danach für Jahre als Liedermacher «weg vom Fenster» war und der sich, um wieder nach oben zu kommen, bei der Wahlkampagne des Staatssekretärs Piotrowsky einspannen lässt.

So steuert Degenhardts Geschichte, von zwei Seiten erzählt, auf den Höhepunkt zu: auf die Auseinandersetzungen um die besetzte, dann geräumte Schnupftabakmühle, auf deren Dach eines Tages der altgediente Kommunist Paul Potthoff sitzt und droht, sich in die Tiefe zu stürzen, wenn das Haus nicht den Besetzern zurückgegeben werde.

Das ist ein Höhepunkt im klassischen Sinn: Die Protagonisten werden versammelt, viel Volk bildet die Kulisse, die Kameras surren, das Sprungtuch ist gespannt und zwischenhinein werden alle Konflikte und Fragen (dar)gestellt, die von einem romanschreibenden, linken, arrivierten Liedermacher erwartbarerweise (dar)gestellt werden müssen: Da streitet sich ein alter 68-er mit den «Struppis», den Hausbesetzern: «Haben nicht wir dafür gesorgt, dass der Unterschied zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen deutlicher wurde und einige meinten, zur Knarre greifen zu müssen? Sind wir nicht eure Stammväter? Nein? Aber sicher sind wir. Ohne uns seid ihr nicht denkbar, auch wenn ihr uns heute Kopfwichser nennt.» Um ihr Verhältnis zu den Hausbesetzern streiten aber auch die orthodoxen Kommunisten am Stammtisch, wobei «Enkel und Grossvater am selben Ende vom Strick» ziehen, gegen die «Truppe von Vierzig- bis Sechzigjährigen». Hausbesetzer als «Explosivgeschosse gegen die organisierte Arbeiterschaft» oder als Kämpfer an der Front, «wo auch wir sein müssen. Der Gegner weiss das. Da geht’s ihm ans Eingemachte – ans Eigentum nämlich.»

Als müsste er einen Beweis erbringen, dass er auf der Höhe der Diskussion ist, handelt Degenhardt all die Fragen ab, die «man» heute diskutiert. Degenhardt demonstriert, dass er auf der Höhe der Diskussion ist; er zeigt, dass er ein souveräner Romaneschreiber ist, der jederzeit virtuos mit den Koordinaten seiner Zeit spielt; er zeigt, wie man Material handhabt, wie man eine Geschichte formal so bewältigt, dass das erste Kapitel (was man aber erst am Schluss des Romans merkt), eigentlich das letzte ist und die Pointe vorwegnimmt, die man am Schluss des Romans nicht findet; er zeigt, wie man es macht, dass der Leser mitgerissen wird, dass er nicht zwischen den Zeilen in eine andere oder eine eigene Geschichte abgleiten kann; er zeigt, wie man mit einer heilen Syntax, mit einem enzyklopädischen Wortschatz, mit einer strengen Form unsere kaputte Welt darstellt. Er zeigt, wie heil die kaputte Welt eines engagierten Literaten sein kann.

Vielleicht ist das das Einzige, was mich an Degenhardts Geschichte stört: dieses aufdringlich Demonstrative, dieses treuherzige Vorzeigen der eigenen Fähigkeiten. Stärker als der Eindruck, Degenhardt habe mir eine gute Geschichte erzählt, ist im nachhinein nun der Eindruck, Degenhardt sei ein guter Geschichtenerzähler, «einer der wichtigsten Schriftsteller dieses Landes» (Klappentext). Mag sein, dass man sich auch dann fragen muss, was man falsch gemacht hat, wenn man es derart schlecht verbergen kann, dass man derart gut ist.

Das wirklich Autobiografische am Liedermacher Piet Atten ist möglicherweise die Darstellung des enormen Leistungsdrucks, unter dem man steht, wenn man verbissen darum kämpft, oben zu bleiben, sich nicht vom «Fenster» verdrängen zu lassen.

Franz Josef Degenhardt: Der Liedermacher. Roman, München (Bertelsmann) 1982.

Aktuell

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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