Einer gegen den Rest der Welt

Lieber Peter,

vor einer Woche hat der Suhrkamp-Autor Franz Böni in der «Weltwoche» einen Brief veröffentlicht, in dem er sich bitter darüber beklagt, dass der Zürcher Stadtpräsident Wagner ihm noch keine Wohnung vermittelt hat, obschon Böni ihm bereits letzten November mitgeteilt habe, dass er eine solche suche. Wie auch andere Schriftsteller – er nennt Arlati, Mettler und Federspiel – lebe er noch heute unwürdigerweise in einem einzigen Zimmer. «Es handelt sich hier nicht um irgendwelche Autoren», schreibt er, «ich bin überzeugt, dass diese Autoren in den 90er Jahren zu den bedeutendsten der deutschen Literatur gehören werden». Es muss fürwahr ein exquisites Leiden sein, sich auf der weltabgewandten Seite der bösen Gegenwart der Sprache zu ergeben. Nicht exquisit aber ist das Leiden des Wohnungs-suchenden. Und nicht einsehbar ist, warum ein wohnungssuchender Schriftsteller Schriftsteller und nicht – wie alle andern – Wohnungssuchender sein soll.

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Peter, als Du vor einem Jahr mit Deiner ersten Plakataktion an die Berner Öffentlichkeit getreten bist, haben wir uns kennengelernt. Seither hast Du nicht aufgehört, mit dem moralischen Pathos eines Propheten «Widerstand» zu leisten «gegen die moralische Krise unseres Zeitalters», wie Du sagst. An den Filmtagen in Solothurn hast Du anfangs Jahr unter dem Titel «Die letzte Möglichkeit» einen 40-minütigen Super-8-Film über die Plakataktion vorgeführt. Anfangs Juli ist in der Berner Edition Erpf Dein erstes fremdverlegtes Buch, «Berner Kälte», herausgekommen, angekündigt als «ein grundehrliches Buch der jungen Generation». Letzten Samstag hast Du auf dem Berner Bärenplatz eine «Demonstration» gegen das Auto gestartet: In einem durch Abschrankungsgitter abgesperrten Kreis stand ein schwarzes Auto. Davor sassen etwa zehn Gasmaskenvermummte, schweigend. Ohne Maske, im leuchtendroten Pullover, gabst Du Passanten und Presseleuten Auskunft. In den nächsten zwei Wochen hängen nun die 230 Plakate Deiner zweiten Plakataktion in der Stadt: «Das Auto bringt uns: Asphalt, Lärm, Gift, Krebs, Tod… und ein bisschen Fortschritt. Verkaufen wir unser Auto!» 230mal gezeichnet: Peter Fahr.

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Zu Deinem Buch sagst Du: «Ich bin durch die Strassen der Stadt gegangen, habe meine Eindrücke auf Tonband gesprochen, habe alltägliche Wirklichkeit mit einer Sofortbildkamera festgehalten, habe Postkarten, Reklamen und Bilder aus Zeitschriften gesammelt, die man an Berner Kiosken kauft, habe teure Fotobände zerschnitten und ihnen Ansichten der Stadt entnommen, habe Geschichtsbücher gelesen, habe mir touristische Stadtführer beschafft…» dazu kommt die Dreieck-Beziehungsgeschichte zwischen einem Ich-Erzähler, der untreuen Zina und dem Grafiker Daniel. Dazu kommt eine Briefumfrage an zum Teil prominente Stadtbewohner/ innen: «Hält ‘die schönste Stadt der Welt’ (Goethe), was ihre Fassade verspricht?» Dazu kommen durchwegs idealisierte Bern-Erinnerungen von Ferdinand Hodler, Llsa Wenger, Gonzague de Reynold u.a. Das Ganze hast Du dann im Sinne einer Collage zusammengepappt, allerdings derart zufällig und beliebig, dass selten ein – möglicherweise gemeinter – Zusammenhang erkennbar wird und von der Montage her so ziemlich alles unverständlich bleibt. Offen auch die Frage, ob die durchwegs ganzseitig übernommenen Inserate von CAMEL, BLICK, ABM, DIOR, OMEGA usw. bezahlt worden sind oder, wenn nicht, worauf Du, Peter, die Hoffnung gründest, der kommentarlose Abdruck eines Inserats sei bereits eine kritische Leistung.

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Das Grundproblem des Ichs, das mit Tonband, Fotoapparat und Weltschmerz beladen durch die Stadt Bern geht auf der Suche nach dem, was es schon zu wissen glaubt (und nur nach dem), ist der Schmerz über den «Krebs hinter den Fassaden», der Schmerz über die verunstaltete Stadt. Aber: Sind es nicht Menschen, die die Stadt verunstalten? Und: Die von Menschen verunstaltete Stadt, verunstaltet nicht sie wiederum Menschen? Wer ist Deiner Meinung nach verantwortlich für den «Krebs», den Du siehst? Sag mir die Namen, Peter. Wer verunstaltet? Wer profitiert? Wer leidet darunter? Wo fliesst das Geld? Wo das Blut? Menschen kommen in Deinem Buch nicht vor. Am Zustand, in dem Du jemanden auf der Gasse antriffst / anzutreffen glaubst, ist er selber schuld und also zu verurteilen. Was Du auf der Strasse beobachtest, sind immer wieder projizierte Klischees Deiner moralischen Voreingenommenheit: «Berner Menschen: Sonntäglich gekleidete Ehepaare, Jugendliche in ausgefransten Jeans, ab und zu ein Snob…» (88). «Ferner ein 18jähriger Strassenmusikant, wahrscheinlich drogensüchtig: Schleier über den Augen» (54). Mehr als ein Satz ist Dir keiner wert auf Deinen Rundgängen. Mit niemandem hast Du ein Wort gewechselt.

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Das wird Dich vielleicht erstaunen: Dein Buch ist für mich, obschon es seine Kritik vor allem historisch führt, ein vollkommen a-historisches Buch. Deine «historische» Betrachtungsweise beschränkt sich auf das Klischee: Früher war es noch gut, heute ist alles schlecht. Über die Brunngasse sagst Du: «Wenn ich von den Autos absehe, fühle ich mich zurückversetzt in das Bern des Mittealters. Ruhe, fehlende Fernsehantennen, keine Telefondrähte: Harmonie» (99). Nur ein einziges Mal, unten im Langmuurquartier, empört Dich das Alte plötzlich: «Zwischen Bergen von Abfall spielen Kinder. Da leben Familien in ungeheizten ‘Bruchbuden’. Tote Katzen und menschlicher Kot liegen in den Höfen. Krankheitsherde» (192). Hast Du je mit jemandem, der’s kennt, darüber gesprochen, wie eminent wichtig das Langmuurquartier jahrzehntelang für verschiedene Randgruppen Berns war? Wieviel Gutes und Wichtiges dort unten passiert ist, wo Du nur Scheisse und Kadaver findest? Darüber hinaus ist Dein Buch in diesem Punkt schon beim Erscheinen nicht mehr aktuell: Heute ist dort, wo Du Dein «Berner Kalkutta» gefunden hast, eine riesige Baustelle; die Wohnungen, die jetzt dort unten entstehen, werden wir beide nicht bezahlen können. Aber möglicherweise sieht das Langmuurquartier schon in naher Zukunft so proper und gschläcket aus, dass lustwandelnde Literaten ausrufen werden: «Wenn ich von den Autos absehe undsoweiter: Harmonie.»

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Weisst Du, Peter, wenn ich Franz Bönis Brief lese, so dünkt mich, der meine wirklich, dass er der letzte und einzige sei, der in Zürich in einem Zimmer leben müsse. Das Pathos, allein gegen den Rest der Welt darauf hinweisen zu müssen, welch himmelschreiendes Unrecht geschehe, das wirkt für mich unfreiwillig komisch. Auch bei Deinem Buch hab ich höchstwahrscheinlich nicht immer dort gelacht, wo Du das eingeplant hast (darf man überhaupt lachen bei der Lektüre Deines Buches?). Gelacht habe ich zum Beispiel bei der Stelle über die Heiliggeistkirche: «Ein imposanter Bau, breit, schwer. Auf dem Sandstein steht gesprayt: ‘Wach auf, du kalte Kirche!’» Es hat in den letzten paar Jahren Hunderte von Spraysprüchen gegeben und davon sicher mehrere Dutzend originelle. Aber es hat nur einen gegeben, der in der ganzen Schweizer Presse mindestens einmal abgebildet und dreimal zitiert wurde, und genau den hast Du, mit Hilfe von Tonband und Fotoapparat recherchierend, ausfindig gemacht.

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Ich behaupte, dass die Erkenntnis dessen, was Du mit «Berner Kälte» umschreibst, eine Voraussetzung für die 80er-Bewegung war, andere vor Dir haben von «Eiszeit» oder «Packeis» geredet, wenn sie das gleiche meinten. Auf das, was Du jetzt für Dich neu erkennst, ist in diesem Land bereits auf sozial relevante Art reagiert worden. Das würde heissen: Du prophezeist Vergangenheit. Und das hiesse: Das gegenwärtige Bern liegt in Deiner Zukunft. Darum war das Szenario auf dem Bärenplatz letzten Samstag für mich auch leicht gespenstisch: Brav wartend bis der Samstagmärit abgebrochen war, sich freiwillig einschliessend in massiven (städtischen?) Abschrankungsgittern, zivilpolizistenumwandert, ohne politische Forderung, aber mit dem moralischen Anspruch warst Du mit Deinen Statisten für mich nicht «Widerstand gegen die moralische Krise», sondern ein Symptom für die Krise des moralischen Widerstands. Und diese Krise bewältigt keiner allein gegen den Rest der Welt.

E Gruess

Fredi Lerch

Peter Fahr: Berner Kälte. Eine Collage, Bern (Edition Erpf) 1983.

Am 13. August 1983 hat Peter Fahr der WoZ eine Replik auf diese Kritik zugeschickt: «Im Sinne einer fairen Berichterstattung, die ich der WoZ zutraue, poche ich auf die ungekürzte Veröffentlichung meines Antwortbriefes in der nächsten WoZ. Ein Foto würde dem Leser das Ganze wieder in Erinnerung rufen!» Der Leserbrief ist in der Ausgabe 33 /1983 vom 19. August ungekürzt (und mit einem Bild) veröffentlicht:

«Lieber Fredi

Dein offener Brief an mich hat mich traurig gemacht; er enthielt viele Unklarheiten und Fragen – deshalb will ich Dir darauf antworten.

Ausschlaggebender Anlass für Deine Zeilen war meine gegenwärtige Plakataktion gegen das Auto, aber – wie ich mich auch anstrengte – ich konnte nichts über sie lesen. Mit journalistischer Willkür nahmst Du Dich der Wohnungssuche eines mir gänzlich unbekannten ‘Franz Böni’ an und Deine Kritik (nichts gegen sinnvolle Kritik!) scheint sich nutzlos in meine Person verstiegen zu haben. Ich suche keine Wohnung, da kannst Du beruhigt sein, ich suche eine Heimat. Als junger Schriftsteller und Bürger von Bern erachte ich es als meine Aufgabe, die Lebensqualität dieser Stadt zu ergründen, auf mögliche Missstände hinzuweisen und eigene Ansichten und Gefühle zu äussern. In diesem Sinn entstanden das Buch ‘Berner Kälte’ und die verschiedenen Aktionen. Für den Film ‘Die letzte Möglichkeit’ an den vergangenen Solothurner Filmtagen zeichnet übrigens (wie Du wohlweislich verschwiegst) Daniel Farine Regie.

Samstag vor einer Woche fand auf dem Bärenplatz in Bern die Schweige-Demonstration statt, bei der ich angeblich als ‘Prophet mit moralischem Pathos Widerstand gegen die moralische Krise unseres Zeitalters’ leistete… zusammen mit einigen ‘Statisten’. So siehst Du es. Für uns Beteiligte war es anders. Wir waren Leute, die sich die Mühe machten, sechs Stunden öffentlich zu unserem Unbehagen gegenüber dem Auto zu stehen. Wir sahen und sehen in Bürger-Aktionen einen wichtigen Beitrag zum politischen Alltag. Nein, ein Einzelner bewältigt die Krise nicht, da gehe ich mit Dir einig, aber auf jeden Einzelnen kommt es an. Wir waren 13 Einzelne – und gemeinsam und vereint haben wir für menschenfreundlichen Freiraum demonstriert. Das heisst, wir haben auf etwas reagiert, ‘auf das in diesem Land bereits auf sozial relevante Art reagiert worden ist’, wie Du schreibst. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns damit nicht begnügen dürfen und weiterhin und immer wieder von Neuem darauf reagieren sollten!

Wie konnest Du an diesem Samstag so verblendet sein und die vier Ständer mit den Plakaten übersehen? Im Plakattext wurde darauf hingewiesen, dass die Schweizer Strassenfläche mehr Platz beansprucht, als die Kantone Zug und Schaffhausen zusammen – und Du empörtest Dich über den legalen Charakter der Demo; die Plakate vermittelten ausserdem Informationen über die Umweltbelastung durch Abgase und ihre krebserzeugende Wirkung; da stand, dass pro Tag drei Menschen als Opfer des Strassenverkehrs sterben – und Du ärgertest Dich über meinen ‘leuchtendroten Pullover’; jährlich werden in der Schweiz rund 8000 Rehe, 290 Hirsche, 2200 Hasen und über 10000 Igel überfahren – und Dich störte, dass mein Name auf jedem der 230 Plakate (polizeiliche Vorschrift, Fredi!) zu lesen ist!

Im Zusammenhang mit dem «Krebs hinter den Fassaden», dem ich in meinem Buch ‘Berner Kälte’ nachspüre, stellst Du mir Fragen, die ich als offensichtliche Fangfragen nicht beantworten will oder in ihrer haarsträubenden Naivität so nicht beantworten kann. Dir möchte ich diese Fragen nicht stellen, lassen wir sie doch einfach offen stehen: ‘Wer ist Deiner Meinung nach verantwortlich für den Krebs, den Du siehst? Sag mir die Namen, Peter. Wer verunstaltet? Wer profitiert? Wer leidet darunter? Wo fliesst das Geld? Wo das Blut?’

Lieber Fredi, Dein Brief hat mich traurig gemacht. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir uns kennenlernten. Das war vor einem Jahr bei meiner ersten Plakataktion. Sie beinhaltete allgemeine Sprüche wie: ‘Spekulanten! Reisst Eure Altstadt-Fassaden auch ab – zerstört den Schein!’ / ‘Ein Lächeln genügt!’ / ‘Sagen auch Sie einmal NEIN!’ / ‘Die Jugend ist das Gewissen der Menschheit!’ Damals schienst Du mich zu verstehen. Du machtest ein Interview mit mir und schriebst an seinem Ende die Frage: ‘Warum machen wir uns – ganz egal was morgen sein wird – nicht öfter ein wenig Mut?’ Seither bin ich meinen Weg mit derselben Konsequenz, die Dir damals offenbar gefiel, weitergegangen. Schade, dass Du mir heute nicht mehr folgen kannst, schade, dass ich polemisch fragen muss: Warum nehmen wir uns immer wieder den Mut?

Zu Deinem Titel: ‘Peter Fahr – Einer gegen den Rest der Welt’ meine ich: Wenn man in den eigenen Reihen sich nicht in den Rücken fallen würde, kämpfte wirklich niemand allein gegen den Rest der Welt!

E Gruess

Peter Fahr

P.S, Fredi, ich erteile hiermit offiziell jedem die Erlaubnis, ‘bei der Lektüre meines Buches auch lachen zu dürfen’, – Du bist nicht der einzige Witzbold in dieser lustigen Welt…»

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Zehn Jahre später rezensierte ich noch einmal ein Buch von Peter Fahr: «Ego und Gomorrha. Texte wider die Suizidgesellschaft». – Viel später hat er mit mir als Journalist und Publizist abgerechnet (vgl. ders.: «Alles ist nicht alles», Zürich (Offizin Verlag) 2015, 344 ff. und 398). 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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