Das Universum des Philippe Saxer

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Auch jetzt, neun Jahre nach der Pensionierung, kennen ihn auf dem Waldau-Areal alle und grüssen ihn mit dem Vornamen: Otto. Otto Frick kam vor mehr als dreissig Jahren als Malermeister in die Klinik und förderte seither beharrlich die künstlerisch interessierten Psychiatrie-Erfahrenen. Zum Beispiel Philippe Saxer.

Zungenkuss und Ohrebisler

Jetzt führt Frick im Psychiatriemuseum Bern in der Nähe der Waldau-Kapelle in die beiden Räume der Philippe Saxer-Gedenkausstellung. Das Bild, vor dem er stehenbleibt, trägt den Titel «Kreuzigung – Kreuzanbetung mit Hund», zwei Meter zwanzig auf einen Meter fünfzig, aus dem Jahr 2004. «Gemalt hat Philippe dieses Bild mit Öl auf Malerabdeckpapier ab der Rolle», sagt Frick. Wenn sich Saxer zum Malen in der Werkstatt angemeldet habe, habe er jeweils einen grossen Bogen von diesem Papier an die Wand gehängt. «Wenn er dann gekommen ist, hat er sofort das aufgehängte Blatt fixiert. Wie in Ekstase, wie in Trance hat er einen Moment lang hochkonzentriert die leere Fläche betrachtet. Dann holte er Pinsel und Farben und legte sofort los.»

So auch bei dieser Kreuzigungsszene: Eine nackte Frau kniet anbetend vor schwebenden Unterschenkeln, die Füsse nicht nageldurchschlagen, der schwarze Pfahl am rechten Bildrand wirkt eher wie ein Galgen als wie ein Kreuz. Aus dem Kopf der Frau wächst ein zweiter, männlicher, der die Zunge heraustreckt oder sich nach rückwärts erbricht in Richtung einer zweiten Figur, die kreuzabgewandt links im Bild speertragend an einen römischen Legionär erinnert. Auch aus dessen Kopf wächst verschattet ein zweites Gesicht: das eines desinteressierten Rauchers, der gelangweilt auf das Kreuz (oder den Galgen?) blickt. Rechts unter den hängenden Füssen schliesslich eine runde Fläche – der Schild des Legionärs? –, drauf abgebildet ein schwermütiger Hund. Frick sagt bloss: «Man kann sehr viel hineindeuten in Philippes Bilder.»

Diese Kreuzanbetung ist eines der gut drei Dutzend mehrheitlich figurativen, zum Teil ornamentalen Bilder dieser Gedächtnisausstellung. Viele sind mit «Ohne Titel» angeschrieben, aber Frick weiss, wie Saxer seine Lieblingsmotive genannt hat, wenn er über sie sprach: «Zum Beispiel die Kupplerin, der Ohrebisler, der kleine Anmacher, der Zungenkuss, der Matrose, die Trinkerin, die Menschentiere, die Tiermenschen.»

Verein «Freunde des Philippe Saxer»

Am 22. Dezember 2013 hat Philippe Saxer im Alter von 48 Jahre sein Leben beendet. Zurückgelassen hat er ein immenses Werk. Zu dessen Sicherung ist der Verein «Freunde des Philippe Saxer» gegründet worden, dem auch Saxers Vater angehört. Die Familie ist Eigentümerin des Werks, der Verein ist dessen Verwalter, und das Psychiatriemuseum unterstützt, zum Beispiel, indem es den Lagerraum für das Werk zur Verfügung stellt.

Wöchentlich einmal treffen sich Vereinsmitglieder in der ehemaligen Prosektur – also dort, wo Mediziner seinerzeit hunderten von verstorbenen «Irren» der Waldau die Schädel geöffnet haben, um der Forschung die «abartigen» Hirne in Formalin zu sichern. Heute liegt hier das aus verschiedenen Saxer-Lagern zusammengetragene Gesamtwerk, schätzungsweise zehntausend Einzelwerke. Frick: «Je nach Stimmung füllte Philippe gleich serienweise Einzelblätter, von denen er für keines viel mehr als eine oder zwei Minuten brauchte – Bilder, die von Fachleuten unterdessen als bedeutend bezeichnet werden.» Bis heute haben die Vereinsmitglieder gegen dreitausend Werke katalogisiert und gescannt. Wird man dereinst mit dieser Arbeit fertig werden, will man auch noch die zu Saxers Lebzeiten verkauften Werke katalogisieren. Der Verein besitzt Hunderte Adressen von Privaten, die zu sehr moderaten Preisen mindestens ein Saxer-Bild erworben haben. (Für das Bild, das neben meinem Schreibtisch hängt – eine menschliche Figur, die das kleine Bildformat zu sprengen versucht, mit dem Gesicht einer zweiten Figur im linken Oberschenkel –, wollte Saxer Mitte der neunziger Jahre 50 Franken.)

Neben der Sicherung gehört zum Stiftungszweck des Vereins, Saxers Werk einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen: Neben der Ausstellung im Psychiatriemuseum läuft zurzeit eine zweite im japanischen Kyoto. Verhandelt wird im Moment mit Ausstellungsmachern aus China und einem Galeristen in der Berner Altstadt. Im Tramdepot Burgernziel ist zudem eine Gruppenausstellung geplant, an der auch Werke von Saxer gezeigt werden sollen.

*

Übrigens hat Otto Frick auch die unterdessen zwölfjährige Kunstwerkstatt Waldau mitinitiiert, in der Saxer während seiner letzten Jahre immer wieder gearbeitet hat. Die Werkstatt ist als unabhängiger Verein strukturiert, geniesst aber auf dem Klinikareal der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Gastrecht. Das Schönste, sagt Frick, was er in der Kunstwerkstatt ab und zu höre, sei der Satz: «Schön hier. Hier bin ich nicht krank.»

Würde man dem Malermeister Frick heute einen Preis überreichen in Würdigung seiner Leistung als autodidaktischem soziokulturellem Animator, dann wäre das nicht erstaunlich, sondern das Minimum.

Der Beitrag erschien aus Anlass der «Gedenkausstellung Philippe Saxer (1965-2013)», zusammengestellt von Werner Jutzeler, Marie-Louise Käsermann und Andreas Altorfer, die 2015/16 im Psychiatrie-Museum Bern auf dem Waldau-Areal stattfand.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5