Am Nullpunkt der Wörterspirale

In Bern liest man den Journalisten Martin Bieri (* 1977) regelmässig im «Bund». Daneben ist er Dramaturg und Autor. Und als ehemaliges Mitglied der freien Theatergruppe «Schauplatz International» stand er – etwa in «Idealisten» im Berliner Hebbel-Theater – bis letztes Jahr auch selber auf der Bühne. Mit dem Buch «Neues Landschaftstheater. Landschaft und Kunst in den Produktionen von ‘Schauplatz International’»profilierte er sich als Theoretiker dieser Gruppe.

Auf die Frage, mit wem er dieses Buch am liebsten diskutieren würde, hat er auf der Homepage seines Verlags in einem Autoreninterview geantwortet: «Ich möchte Hans Herbst fragen, was er meinte, als er 1518 eine ›landschafft‹ malte, mit John Brinckerhoff Jackson den Pfad des Fremden nehmen, Aristoteles sehen, mit Lucius Burckhardt spazieren gehen, Rousseau fragen…».

Ecetera. Drunter macht’s Bieri nicht. Und nun hat er also einen Band mit Lyrik veröffentlicht: «Europa, Tektonik des Kapitals».

Die sich verengende Spirale

Ich zum Beispiel bin schon über den Titel des ersten Gedichts gestolpert. «Murmansk / 2830». Mit der Zeit wurde mir klar: Jedes Gedicht handelt von einem konkreten geografischen Ort und jedem Gedichttitel ist eine Zahl beigefügt. Aber erst, nachdem ich im Netz auf einen probaten Entfernungsberechner gestossen bin, konnte ich mir sicher sein: Jede Zahl meint «Kilometer von Bern».

Angeordnet sind die Gedichte so, dass die Zahlen kontinuierlich kleiner werden. Würde man demnach die fokussierten Orte auf einer Europakarte markieren und mit einer Linie verbinden, entstünde eine sich verengende Spirale (bis «Lorraine / 1»). Im letzten Text sieht man den Autor konsequenterweise an seinem Schreibtisch sitzen: «… [du] / wusstest nicht, wo bin ich, wo bin ich hin, / wo werde ich mich finden / denn ein Ort // war das nicht mehr […].» (94) Und eine Zeit auch nicht, denn «im Innersten der Erinnerung» west nichts als «die vergebliche Archäologie der Zukunft». (80)

Das Thema des Theatermachers Bieri – der Lebensraum Landschaft und seine Wahrnehmung – ist auch das zentrale Thema des Lyrikers Bieri.

Die Naturgewalt der Gewinnmaximierung

«Tektonik des Kapitals» meint wohl ungefähr die materielle Schichtung, auf der die heutige europäische Ordnung errichtet ist. Dass die Kräfte der kapitalistischen Logik Landschaften wie Naturgewalten verheeren können, ist für Bieri ein Leitmotiv (etwa wenn das Armenquartier Tarlabasi in Istanbul im Zug der Gentrifizierung niedergerissen wird [9]). Wie sich diese Logik einschreibt in die Landschaft, zeigt instruktiv der zehnteilige «Schweiz»-Zyklus (53 ff.), der zwischen Genf und Zürich die Konzernsitze von Gunvor, ABB, Vitol, Adecco, Novartis, Glencore, Xstrata, Roche, Nestlé und UBS besingt.

Ab und zu tauchen in diesen geschichtlich gewachsenen Schichtungen die Spuren jener auf, die sich dieser Naturgewalt entgegenzustellen versuchten: etwa jene von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im «schwarze[n] Wasser des Landwehrkanals» [21] oder jene der letzten Kämpfer der Commune in Paris, die 1871 im Friedhof Père Lachaise vor der Mur des Fédéres erschossen worden sind [36].

Durchgängig unübersehbar – für mich am deutlichsten im Zyklus «Europa» (10 ff.) – ist die zweifellos zufällige Parallele von Bieris Versuch, ein Europa-Bild zu entwerfen, zu jenem, den Urs Mannhart als Epiker in seinem Roman «Bergsteigen im Flachland» (2014) unternommen hat. Eine Grundannahme in beiden Büchern: Die Tektonik des Kapitals zwingt immer mehr Menschen dazu, dort zu leben, wo sie unter ihrem Wert geschlagen werden – wo sie im Flachland bergsteigen müssen.

Streng geformter Bildungsdünkel

Allerdings: Zeichnet Mannhart Figuren und versucht das Unmögliche, ganz Europa zu erreisen (und wird nun wegen Anleihen aus Reportagen eines Berufskollegen von jenem vor Gericht zitiert), rückt Bieri Strukturen ins Zentrum und versucht das Unmögliche, ganz Europa (am Schreibtisch) zu erdenken. Murmansk zum Beispiel kennt das lyrische Ich nur «von Videos in HD / und time laps» (7) und in der Gegend von Koppigen ist es mit «Google Street View» unterwegs (81).

Entsprechend bilden die Texte eine temperierte, medial gestützte Internet-Räumlichkeit ab. Nirgends läuft Bieri Gefahr, von der Unvorhersehbarkeit seiner Welt-Erfahrung zu formal Unvorhergesehenem genötigt zu werden. Die Formen seiner 88 Texte sind sehr einheitlich: Er schreibt meist drei- oder vierzeilige Strophen, mehrere Texte sind als Sonette dargestellt (4/4/3/3). Darüberhinaus gibt es allerdings weder Rhythmisierungen noch Reime noch besonders sinnfällige Zeilenumbrüche. Bieris Lyrik ist in Flattersatz gestellte, gewollt schmucklose Prosa.

Leicht lesen sich die Gedichte trotzdem nicht. Eines zum Beispiel heisst «Josetti / 752». Darin geht es darum, dass «Farocki […] den Kontrapost in den Kolonnen / kommender Arbeiter» sah, und daneben um «Spolien» und einen «Kritios-Knabe[n]», die im Text herumstehen. Nach einer Viertelstunde Surfen und dem Kontrollcheck mit dem Entfernungsberechner bin ich unterdessen der vollendeten Überzeugung, dass Bieri hier über Berlin sprechen muss.

Dabei sind die Texte in keiner Weise hermetisch (im Sinn von Paul Celans «Metapherngestöber»): Sie sind vielmehr allzu oft ärgerlich besserwisserisch im Sinn eines anspruchsvollen Kreuzworträtsels. Es gibt in diesem Band nur wenige Gedichte, die mich länger im Buch als am Bildschirm haben lesen lassen, wo ich immer wieder nach dem Schlüssel zum Text suchen musste (und ihn auch meistens fand). Der zelebrierte Bildungsdünkel konterkariert für mich die aufklärerisch-kapitalismuskritische Perspektive, die Bieri vermutlich auch mitgedacht hat.

Das Eigene des prekären Ichs

Das lyrische Ich Bieris ist ein Du im Sinn von: «Während den Raunächten / verschlug es dich an den / Rand der Stadt […]». (52) Die Texte lesen sich deshalb, als stünde das lyrische Ich vor einem Spiegel und redete auf sich selbst ein. Dabei ist dieses Du aber weniger als Subjekt gedacht denn als blosse rhetorische Figur; in vielen Passagen als Kniff, damit die Formulierungen nicht in schiere Sachbuchprosa abgleiten.

Denn viel Ich ist da nicht. Und wird in flüchtigen Strichen ein Subjekt fassbar, dann meist mit Hinweisen auf Isoliertheit, Angst oder Tod. In «Neubrück / 3» verfremdet sich das Du in den letzten Zeilen in ein Er, dem «in diesen Baumfeldern [des Bremgartenwalds, fl.] etwas auf den Fersen» sei (84). Und anlässlich einer Autofahrt durch die Leventina heisst es: «Hier erfriert man leicht, du zum Beispiel. Einschlafen am Steuer, / Tod beim Betrachten der alpinen Eintönigkeit, allein. […] Du sehnst dich doch in den Strassengraben.» (73)

Der Lyriker Bieri arbeitet nicht nur an der Dekonstruktion von Raum und Zeit, sondern auch an jener des Ichs. Erstaunlich deshalb die letzten zwei Zeilen von «Naturhistorisches / 2»: «Ideologie, denkst du jetzt und schwankst. Halt fest, / was du für das Eigene hältst, stabilisier es.» (86) Soviel Pathos des Subjekts! Hält Bieri selbst am Ende die Sprache für sein Eigenes, für seinWerkzeug zur Sezierung der Welt? Das wäre eine geradezu sprachromantische Illusion.

Martin Bieri: Europa, Tektonik des Kapitals, München (Allitera Verlag / Buch&media GmbH).

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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