Erzählen wir die Gegenwart besser!

WoZ: Blochers Attacke[1] gegen Sie war auch ein Hinweis auf die ideologische Grosswetterlage in diesem Land. Wie schätzen Sie deren Bedeutung heute ein?

Adolf Muschg: Blocher darf die Agenda in diesem Land nicht bestimmen. Hat er überhaupt eine? Er hat jedenfalls eine Strategie zur Verbreiterung und Vergrösserung seiner Macht. Er reagiert gekonnt auf die politische Ohnmacht der von ihm sogenannten Classe politique. Aber er ist auch Reaktion durch und durch. Seine Berner Rede war ohne jede Perspektive, und ausser dem demagogischen Kalkül gibt es daran nichts Bemerkenswertes. Erst konstruiert er eine Vergangenheit der Schweiz, wie sie ihm am bequemsten ist, dann schiesst er auf Manipulierfeinde, und schliesslich droht er der Solidaritätsstiftung mit der grossen Trotzreaktion: Wer sich nicht zu entschuldigen braucht, der findet auch nichts, gut oder gar besser zu machen. Alles klar? Blocher liefert eine grobgestrickte, eine eindimensionale Version der Schweiz, ein Drehbuch mit Schlagseite zum Totalitären hin. Woher sonst die Lust am Ausgrenzen, die Geilheit auf Feindbilder? Ich denke, die Bürgerinnen und Bürger lassen sich so viel destruktive Einfalt nicht unbegrenzt gefallen. Es gibt nicht nur eine einzige wahre Geschichte, und es ist keine Schande, auch im Zweiten Weltkrieg mehr als nur eine Schweizer Geschichte zu entdecken. Blocher, das ist wie D’Amato[2], nur seitenverkehrt. Die schrecklichen Vereinfacher besorgen einander das Geschäft.

Das erste wäre also, Blocher zu vergessen, um wieder denken zu können?

Ernst zu nehmen sind die Gefühle, die er auf seine Mühle leitet, das verbreitete psychologische Unglück, dass er ausbeuten kann. Eine ganze Generation älterer Schweizer fühlt ihre Lebensleistung entwertet. Das ist eine Situation wie in der ehemaligen DDR. Und vielleicht schmerzt sie noch empfindlicher, weil man sich hierzulande ja mit dem Mythos der eigenen Richtigkeit identifiziert hat. Der Demagoge tut so, als wäre die Entsolidarisierung innerhalb der Gesellschaft, die ein weltweites Phänomen ist, das Werk einer antischweizerischen Verschwörung. Er nationalisiert eine Problemlage, die so weit und so breit ist wie die postindustrielle Zivilisation. Das hat zwar mit der Realität nichts zu tun, aber es schafft eine eigene Realität, einen neuen Sonderfall der Intoleranz und des Ressentiments. Sozial produziert es reines Gift.

Nun haben Sie letzthin an einem Podiumsgespräch des FDP-Presseverbandes die Intellektuellen des Landes ermuntert, an der Expo 2001 sozusagen ihre Geschichten gegen Blochers Einfältigkeit beizutragen. Aber das Verhältnis dieser Intellektuellen – auch Ihres, zum Beispiel als Erstunterzeichner des Kulturboykotts 1990 – zu den letzten Landesausstellungen ist ja nicht ungetrübt.

In den fünfziger Jahren fand ich «achtung: Die Schweiz», Frischs, Burckhardts und Kutters Entwurf einer neuen Stadt, grossartig – danach kam mir die Expo ’64 eher überflüssig vor, aber ich war in Japan und habe sie nicht miterlebt. Die Feiern 1991 setzten anachronistische und – ein Jahr vor der EWR-Abstimmung – ganz falsche Signale. Ausserdem waren die Wunden der Fichen-Affäre noch frisch – wer erinnert sich noch daran? Ein Fünftel der Schweizer Wohnbevölkerung wurde zwar dilettantisch, aber mit System überwacht. Es war das System des Kalten Kriegs, und der «Kulturboykott» war eine nicht sehr glorreiche Antwort darauf. Und dann die «Diamant»-Feiern – auch wer den Aktivdienst-Veteranen den aufgewärmten Spatz gönnte, durfte es taktlos finden, wenn man hierzulande ein Datum in die Festhütte verlegte, das für den Rest der Welt den Anfang einer Katastrophe bedeutete. Für eine solche Schweiz mochten sich dann viele Kunstschaffende und Intellektuelle nicht gleich ins Schaufenster stellen lassen – Misstrauen gegen Misstrauen. Sie waren ja auch früher nie der Schweizer liebste Kinder – Inzwischen hat sich die Szene gewandelt. Alle wollen Kulturschaffende sein, und kein Managerseminar, keine Stellenbeschreibung kommt ohne das Zauberwort Kreativität aus. Sie gehört zur Corporate Identity – auch der Schweiz.

Sie haben in einem Aufsatz 1986 auch grundsätzliche Kritik gegen die Idee einer Landesausstellung geäussert: «Vor allem der nationale Anspruch ist zur Chimäre geworden. Es gibt keine ‘schweizerische’ Landesausstellung mehr, wenn das, was repräsentativerweise auszustellen wäre, ein Produkt des Weltmarkts ist.» So gesehen ist der nationale Bezugsrahmen das Problem.

Damals hatte ja auch noch kaum jemand einen rechten Begriff davon, was «Globalisierung» bedeutet und wie sich der triumphierende Kapitalismus nach 1989 kaputtsiegen würde. Warum sind die Blochers auch in anderen Ländern erfolgreich? Weil sie dem totalen Markt einen andern, scheinbar menschenfreundlicheren Fundamentalismus entgegensetzen. Das ist vollendete Augentäuschung: Auch die künstlichen Heimaten sind reine Marktprodukte und zielen auf eine benachteiligte, zwar entpolitisierte, aber in ihren Bedürfnissen leicht radikalisierbare Käuferschicht. Richtig ist, dass wir zur real existierenden Globalisierung erlebbare, seelisch tragfähige Gegengewichte bilden müssen. ich nenne sie einmal «Lokalisierungen», um das missbrauchte Wort «Heimat» zu vermeiden. Es würde also nicht reichen, beispielsweise eine virtuelle Landesausstellung über die Bildschirme in allen Wohnzimmern laufen zu lassen. Man muss hingehen, sich leibhaftig bewegen können, ein gemeinsames Hier und Jetzt erfahren. Das gilt auch für das Erlebnis der Schweiz. Der Artikel, den wir – auch uns selbst – bisher als «Schweiz» verkauft haben, läuft nicht mehr. Es genügt nicht, die Schweiz als gemeinsame Gewohnheiten und Geschäftsinteressen zu definieren. Ist dies das Ende der Nation, oder erhält sie einen neuen Sinn? Ich finde es spannend, heute in der Schweiz zu leben – Blocher durchaus eingeschlossen, den Fabrikanten einer virtuellen Nation. Der Konflikt, den er falsch etikettiert, ist eine Tatsache. Jetzt müssen wir sehen, wieviel Erfindung dieses Land nötig hat, wieviel Wahrheit es erträgt. Die Frage ist wieder die von Max Frisch: Hat die Schweiz noch eine Idee? ein weiterführendes Konzept ihrer selbst?

Aber wer soll denn heute dieses Konzept neu formulieren? Es ist ja immer weniger klar, wer sich noch als kritischer Intellektueller positionieren will.

Kommen wir doch von dieser Fixierung auf den «kritischen Intellektuellen» weg. Warum fragen wir nicht: Hat dieses Land noch gute Erzähler? Das müssen durchaus nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller sein. Wir brauchen auf keine Historikerkommission zu warten, die uns eine bessere Erzählung unserer Vergangenheit liefert: Erzählen wir doch die Gegenwart besser! Ich meine, dass dieses an Geschichten reiche Land eine bessere Lesart als die Blochersche verdient hat: Warum geben ihr die Medien so viel Raum? Dieses Land hat so viele Erzählungen, die es besser sehen lehren und gegen geistige Verdunkelung helfen.

Nehmen wir an, es gebe hier und jetzt die Leute, die diese nötigen Geschichten erzählen könnten: Wie verschaffen sie sich Gehör im Jahr 2001? Wird, wer mitmacht, nicht wieder vereinnahmt und instrumentalisiert?

Ich ängstige mich nicht mehr so vor Vereinnahmung, seit ich erlebe, wie hilflos, ja närrisch unsere grossen Systeme funktionieren. Wenigstens bei den Grossbanken, dachte ich, sei auf Kompetenz in eigener Sache Verlass. Und nun sehen Sie sich an, wie sie ihre Krisen managen, bis hinunter zum Fall Meili[3]: So viel Unprofessionalität ist schon fast entwaffnend. So etwas wäre einem Renaissance-Fürsten nicht passiert, dem hätte doch sein Macchiavelli zugeflüstert: Sofort befördern! Nur keinen Märtyrer machen! Nein, um die Menschen zu instrumentalisieren, muss man die Instrumente beherrschen. Oder sehen Sie sich unsere Aussenpolitik an, seit sie kein Mäntelchen der Neutralität mehr gnädig bedeckt! Aber vielleicht ist es ganz gut so. Die Schweiz steht wieder an einem Anfang. Mit Funktionieren ist es nicht mehr getan.

1990 haben rund 500 Kulturschaffende den Boykott gegen die 700-Jahrfeier unterzeichnet. Was empfehlen Sie ihnen heute?

Jetzt will ausgerechnet die WoZ einen Konsumtip von mir? Ernsthaft: Das offene Konzept der Expo – «Der Weg ist das Ziel» – mag ein wenig chic sein, und gar nicht wenig ratlos. Aber die Ratlosigkeit ist echt. Bei aller illuminierten Beliebigkeit, in der die Zivilisation schwimmt, gibt es auch eine Chance für das provozierend Verbindliche. Spielplatz ist ja inzwischen alles: Warum soll uns in der schönen Grenzregion verschiedener Landeskulturen, in der Nähe Rousseaus, nicht ein besseres Schweiz-Spiel einfallen? Dass die Expo gegen ihre Sponsoren – pardon: ihre Partner – an ihrer Zwecklosigkeit festhalten muss, ist eine lehrreiche Spielregel: Der Markt muss seine Gesetze zivilisieren. Wenn er für einmal nicht alles ist – was gibt es noch? Die Teilnahme an der Expo ist für mich keine Frage des linken Comments. Im Namen welcher Ideologie soll man dagegen sein, dass die Schweiz in eigener Sache Witz zeigt und Leute ihre Ideen ausprobieren lässt?

Zu Beginn des Gespräch sind Sie für eine Art sentimentalen Patriotismus eingestanden; nun, am Ende, bleibt nicht viel.

Auch der sentimentale Patriotismus verdient ja seine Rolle in einer guten Komödie. Natürlich könnte man an der Expo 2001 auch grausam ernst machen: Man könnte einer immer noch privilegierten Gesellschaft wie der unseren praktisch vorführen, was es bedeuten würde, mit 1000 Watt pro Kopf auszukommen, statt wie jetzt 9000 zu verschleudern. «Nur nichts kaufen ist billiger» – das muss keine Hosenreklame bleiben, das wäre ein wegweisende Projekt –, wenn auch für die nächsten Generationen die Lebensgrundlagen erhalten bleiben sollen. Statt auf schönen Seen langsam mit Schnellbooten herumzufahren, die sich später noch einem Club Méd. verkaufen lassen! Diese Art von Recycling hat exakt die Logik des umweltschonenden Drittwagens.

Statt grimmig zu sparen, lachend zu unterlassen – damit, fürchte ich, wäre der Witz der Landesausstellung überfordert. Man muss eigentlich schon zufrieden sein, dass ihr die bekannten, grossen Konzepte ausgegangen sind. Damit spiegelt sie den Stand der Dinge und ist unseresgleichen. Plastischer als alle politische Rhetorik wird diese Landesausstellung uns zeigen, was bei uns geht und was nicht mehr geht. Ich stelle mir vor, dass die Expo 2001 ein Medium werden könnte, das die Wahrnehmung des Landes für seine Bürgerinnen und Bürger verändert; eine spielerische Schule der Zeitgenossenschaft. Die Schweiz entdeckt die Welt nicht nur, sie kommt nochmals auf die Welt. Sie hat wieder Wünsche an die Zukunft frei, die sich sehen und ausstellen lassen. Nicht nur ausstellen: sondern agieren. So ein identitätsbildendes Festspiel hat sich Gottfried Keller – damals noch nicht Staatsschreiber – vor bald hundertfünfzig Jahren ausgemalt. Die Expo 2001 könnte, mit den Mitteln einer Haupt- und Staatsaktion, vorführen, dass wir keine Haupt- und Staatsaktionen mehr brauchen. Das ist kein Zynismus, es ist eine Utopie – und insofern der Beitrag eines Intellektuellen. Dies als Konzession an Ihre Erwartung.

[1] Kurz vor diesem Gespräch hatte der SVP-Nationalrat Christoph Blocher anlässlich einer Rede in Bern Adolf Muschg «Anbiederung an den nördlichen Nachbarn» vorgeworfen.

[2] Gemeint ist der US-amerikanische Senator Alfonse D’Amato, der 1997 zu jenen gehörte, die lautstark nach der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gefragt haben. Die Polemik hat damals das Verfahren und die jüdischen Vermögen auf den Schweiz und die Arbeit der Historikerkommission um Jean-François Bergier in Gang gebracht.

[3] Gemeint ist der Fall von Christoph Meili.

Das Gespräch habe ich zusammen mit Simone Meier geführt (ab 1998 Kulturredaktorin des Tages-Anzeigers) und unter dem Titel «Achtung: Die Expo 2001» mit einem Kommentar auf der WoZ-Titelseite der Nummer 31/1997 angerissen. 

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