Der neue Spitteler-Kontinent

Trotz des nationalen Projekts «Carl Spitteler 100 Jahre Literarturnobelpreis», das Sie 2019 geleitet haben und obschon es in Luzern seit 1975 die Carl Spitteler-Stiftung gibt, sind Sie nun Präsidentin des Vereins «Carl Spitteler-Netzwerk». Weshalb ist dieser Verein nötig?

Stefanie Leuenberger: Während des Spitteler-Jahrs 2019 ist nicht nur klar geworden, dass es ein grosses Interesse an diesem Autor gibt. Es sind auch mehr Fragen aufgetaucht, als beantwortet werden konnten. Unser Blick auf Spitteler ist immer noch stark von Werner Stauffachers Spitteler-Biografie von 1973 geprägt. Für ihre Zeit war sie in Ordnung, aber sie hebt die Schriftstellerpersönlichkeit in einer Art auf einen Sockel, wie man das heute eher nicht mehr macht. Zudem haben wir eine andere Sicht auf Spittelers literarische Texte. Wissenschaftliche Arbeiten dazu gab es in den letzten 50 Jahren nur sehr wenige. Hier steht die Forschung noch am Anfang – auch deshalb, weil 2021 Jonas Fränkels Nachlass ins Schweizerische Literaturarchiv gekommen ist, in dem sich zu Spitteler und dem Netzwerk sehr viele neue Quellen, Dokumente und Manuskripte finden…

…nicht zu vergessen die Briefe…

…allerdings! Spitteler hat – wie jeder Mensch – nicht im luftleeren Raum gelebt und geschrieben. Er stand mit zahlreichen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen in Kontakt – Frauen sind für Spitteler wichtig gewesen als Gesprächspartnerinnen, als Mentorinnen und als Leute, die ihm Halt gegeben haben in jeder Lebenslage. Es gibt unglaublich viele Briefwechsel mit den verschiedensten Personen, die das belegen. Ich denke beispielsweise an die Korrespondenzen mit seinem wichtigsten Arbeitspartner Jonas Fränkel oder seinen Freunden Josef Viktor Widmann und C. A. Loosli. Ich denke aber auch an Spittelers bedeutenden Briefwechsel mit seiner Mutter oder an jenen mit Antonie Wilisch, die er mit dem Beinamen «Artemis» ehrte und die später ja die Schwiegermutter von Fränkel geworden ist. Ich bin überzeugt: Wenn man Spittelers Kontaktnetze genauer anschauen würde, käme man in Bezug auf Person und Werk zu ganz anderen Schlussfolgerungen als Stauffacher vor fünfzig Jahren. Auch wegen des Krypto-Nachlasses von Spitteler, der im Nachlass Fränkels gefunden worden ist, scheint es im Moment, als tue sich vor der Forschung ein riesiger Kontinent auf.

Der neue Verein steht ganz am Anfang: Was ist von ihm zu erwarten?

Das Wichtigste ist: Der Verein ist ein Forum, ein Marktplatz im antiken Sinn. Hier sollen Leute zusammenkommen, die sich für das Thema interessieren. Und das Thema ist: Was hat das Netzwerk, das Spitteler mit seinen Kolleginnen und Kollegen gebildet hat, für seine und die folgende Zeit – grosso modo die Moderne ab 1880 – bedeutet? Wichtig wäre, dass der Verein schnell viele Mitglieder hat, die sich interessieren, damit er Synergien entwickeln kann, dass sich im Verein kleine Gruppen bilden, die an konkreten Projekten arbeiten, und dass diese Projektgruppen in Beziehung treten und sich austauschen. Tagungen, Workshops, Versammlungen sind denkbar, Vorträge, Gespräche, ab und zu vielleicht eine Buchvorstellung. Dazu Kanäle in den sozialen Medien und eine Website, wo laufend kommuniziert wird, woran der Verein arbeitet. Klar bedeutet das eine Riesenarbeit. Aber ich habe das Gefühl, wenn man sich für etwas begeistert – und es gibt Gründe, warum dieses Spitteler-Netzwerk jetzt interessant ist –, dann kommt die Energie zusammen.

2024 jährt sich der Todestag von Spitteler zum hundertsten Mal. Was passiert aus Sicht des Vereins dann idealerweise?

Idealerweise würde man nun schnell überlegen, ob wieder ein Veranstaltungsprogramm möglich wäre wie 2019, natürlich in kleinerem Rahmen. Ich denke, das könnte klappen, wenn man früh mit Literaturhäusern, Buchläden, Kleintheatern und anderen Veranstaltungsorten sowie mit Verlagen zusammenzuarbeiten beginnen würde. Aber dazu braucht es viele Köpfe, die zusammendenken, und man muss die Sache jetzt angehen. Sonst sind wir für 2024 zu spät.

 

[Kasten]

Der neue Verein

Die Aktualitäten zum Verein «Carl Spitteler-Netzwerk», insbesondere die Medienmitteilung zur Vereinsgründung, die Kontaktadresse und die Kontonummer für Mitgliederbeiträge finden sich hier

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5