Altherrensommer

Das Dialektstück «Altwiibersommer» von Hansjörg Schneider, das diesen Herbst im Theater an der Winkelwiese auf dem Spielplan war, zeitigt auch ohne Premiere eine ganze Reihe von Theatercoups: Zuerst wird das Stück vom langjährigen Mäzen des Theaters kurzfristig abgesetzt, dann führen die Auseinandersetzungen zwischen Gönner und Künstlern zur Kündigung des Theaterleiters Nicolas Ryhiner und von Ursula Staub, welche für Sekretariat und Administration an der Winkelwiese zuständig war. Und schliesslich meldet sich mit einiger Verspätung auch noch die Stadt Zürich und findet, dass sie mit jährlich 275'000 Franken Subvention bei der ganzen Angelegenheit auch noch ein Wörtchen mitzureden hätte.

Von Fredi Lerch und Lotta Suter

in einem Artikel über das private Mäzenatentum schrieb Niklaus Schlienger im «Tages-Anzeiger Magazin» (TAM) vom 19. September 1983 über den anonymen Förderer eines Zürcher Kleintheaters: «Der Architekt steckt nicht nur Geld in sein Theater, er kümmert sich auch um die Leitung. Er bestimmt den oder die künstlerischen Leiter, er redet mit bei der Spielplangestaltung und in Personalfragen. Wenn ihm etwas gar nicht passt, übt er, sehr selten allerdings, sein Vetorecht aus.» Im «Tages-Anzeiger» vom 22. September tauchte der Architekt bereits wieder auf. Diesmal hiess er Jakob Zweifel und hatte als Mäzen des Zürcher Theaters an der Winkelwiese mit seinem Vetorecht die Proben zum Stück «Altwiibersommer» von Hansjörg Schneider zum Platzen gebracht.

Das Veto

«Obwohl die Nichterfüllung des Auftrages, ein Theaterstück nach Motiven von ‘Harald und Maude’ zu schaffen, durch die Lektüre des Stückes [von Hansjörg Schneider, die Red.] für mich feststand, war ich gerne bereit, aufgrund einer szenischen Lesung zu prüfen, ob die durch das Stück ‘Altwiibersommer’ geschaffene Abweichung vom Konzept des Spielplans trotzdem eine tragbare Alternative für eine Aufführung am Theater an der Winkelwiese bieten könne.» So begründete Mäzen Jakob Zweifel am 18. September gegenüber Theaterleiter Nicolaus Ryhiner seinen persönlichen, frostigen Auftritt an der Winkelwiese (vgl. Kasten von Hansjörg Schneider). «Im Bestreben einer objektiven Beurteilung» habe er, Zweifel, vier Personen, die sich in verschiedener Weise mit Kunst und Literatur befassen, gebeten, der Lesung beizuwohnen: «Die Reaktion war einstimmig und eindeutig: Diese Inszenierung gehört nicht an die Winkelwiese.» Damit war für Zweifel diese Geschichte abgeschlossen und lakonisch schloss er seinen Brief: «Ihren Vorschlägen sehe ich gerne entgegen.»

Erneute Einmischungen

Nach der szenischen Lesung und dem Brief von Zweifel war die Position des Theaterleiters Ryhiner klar: «Sollte Jakob Zweifel ein zweites Mal auf diese Weise von seinem Veto Gebrauch machen, so kann er mit derselben Post auch mein Entlassungsschreiben schicken.» Vorderhand bewies Ryhiner allerdings seine Loyalität, indem er postwendend einen neuen Vorschlag für das verworfene Schneider-Stück unterbreitete: Er wollte auf der Grundlage von Henrik Ibsens «Gespenstern» die erarbeitete Harald-und-Maude-Problematik weiter verfolgen. Bereits am 21. September nahm Mäzen Zweifel in einem Brief aus Lausanne Stellung zum Vorschlag von Ryhiner. Einleitend teilte er mit, dass er die «Gespenster» bereits in der Mittelschulzeit gelesen und später im Schauspielhaus sogar noch «in natura» gesehen habe, um dann seinen Theaterleiter mit einer peinlichen Schulmeisterei zu beglücken: «Ich möchte Ihnen zu bedenken geben, dass Sie sich meines Erachtens auf eine schwierige Aufgabe einlassen», denn «glaubwürdig» sei in diesem Fall nur eine Aufführung, die sich «bis hin zum Kostüm präzis ans Original hält», weil sonst «falsche Reflexe entstehen können». Nach einem munteren Sammelsurium von Warnungen, guten Ratschlägen und Regieanweisungen nimmt Zweifel erneut die Kurve zur lakonischen Pointe: «Zeigen Sie, dass Sie diesen Stoff glänzend inszenieren mit einem einfachen Bühnenbild.»

«Übereinkunft»

Bereits am 25. September meldet sich Zweifel, nach einem Abstecher ins süddeutsche Singen, wo er eine Aufführung von Dürrenmatts «Play Strindberg» besucht hatte, erneut, und zwar mit einem konkreten Vorschlag. Das von Ryhiner für Januar 1984 vorgesehene Stück nach Motiven von Orwell, «1984» sollte auf unbestimmte Zeit verschoben und durch das Gastspiel der Singener Dürrenmatt-Inszenierung ersetzt werden. Dafür, und hier zeigt sich erneut Zweifels lakonische Begabung, habe er Verständnis, «dass Sie für die November-Inszenierung [Ibsens «Gespenster», die Red.] in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit frei schalten und walten wollen.» Ryhiner reagierte am 28. September: «Die Kluft zwischen der vertraglich definierten Funktion der ‘künstlerischen und administrativen Leitung des Theaters an der Winkelwiese’ und der faktischen Zensurierung meiner Arbeit durch Ihre Person degradiert meine Tätigkeit zur Farce.» Wie er heute sagt, war seine abschliessende Formulierung auch als Druckmittel gedacht: «Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns aufgrund des Standes der Dinge trennen und einvernehmlich den Vertrag auflösen. Dass gemäss Ihres Verständnisses meine Position am Haus überflüssig ist, zeigt Ihre Haltung, Ihre vehementen Eingriffe in meine Arbeit.» Zweifels Antwort war kurz und bündig und mit «Übereinkunft» betitelt: «In gegenseitigem Einverständnis wird das Vertragsverhältnis vom 28. Mai 1983 mit sofortiger Wirkung aufgelöst.» Die Abgangsentschädigung ist entsprechend Ryhiners Lohn für die verbleibenden zehn Monate bis zum Vertragsende auf Fr. 25000.- angesetzt. «AHV/IV ist hälftig zu entrichten.» Den vollen Lohn erhielten auch alle anderen für dieses Stück Engagierten von Zweifel ausbezahlt.

Feudale Zustände

Bis dahin ist alles seine gute alte Mäzenenordnung gegangen. Der Architekt Jakob Zweifel hatte mit dem ursprünglich ganz durch Privatmittel finanzierten Theater an der Winkelwiese seiner lieben Freundin, der von zwölf Jahren verstorbenen, ehemals aus Nazideutschland in die Schweiz geflohenen Schauspielerin Maria von Ostfelden ein Denkmal gesetzt. Jetzt wacht er darüber, dass die «Kontinuität des Theaters gewahrt und die Gelder im richtigen Geist verwendet werden». Jakob Zweifel zur WoZ: «Die Vorlage muss im Sinne der Begründerin literarisch anspruchsvoll sein. Durch dieses Sieb ist der ‘Altwiibersommer’ von Hansjörg Schneider nach Ansicht alter Freunde des Theaters an der Winkelwiese durchgefallen.» Nur einmal in zwölf Jahren habe er bisher eine bereits laufende Inszenierung stoppen müssen (Horvath vor sechs Jahren), im übrigen sei die Zusammenarbeit in den Vorbereitungsphasen jeweils so eng gewesen (monatliche Sitzungen mit dem Ensemble, Textprüfung durch Zweifel vor Probenbeginn etc.), dass solche Konflikte an seinem Theater zu vermeiden gewesen seien. Fünfundzwanzig Jahre Theaterkonstanz habe er, Zweifel, jetzt zustande gebracht, das schaffe keine «ad hoc-Gruppe» (an der Winkelwiese werden Schauspieler und zum Teil auch Regisseure pro Stück verpflichtet). Ein autonomes, von den Künstlern selbstverwaltetes Theater wäre längst zugrunde gegangen. «Wenn sich ein Regisseur zwei, drei Jahre bewährt hat, kann man selbstverständlich die Zügel etwas lockerer lassen. Aber am Anfang braucht es eine harte Führung.»

«Feudale Zustände» seien das, schimpft Theatermacher Ryhiner, meint damit ein Fehlverhalten des Theaterliebhabers Jakob Zweifel, trifft aber eigentlich die ganze, traditionsbeladene Einrichtung des privaten Mäzenatentums. Denn nach den ungeschriebenen Regeln und Gesetzen dieser wahrhaft feudalen Einrichtung verlief bisher die Geschichte des Zürcher Kleintheaters. Trotz der jährlichen 275'000 Franken Subvention der Stadt Zürich. Die Allianz des Bildungsbürgertums hatte lange gehalten.

Stadt gegen Privatmäzen?

Jakob Zweifel gibt der Stadt alljährlich eine Defizitrisikogarantie, was in schlechten Jahren (Anfang der 1970er Jahre) schon bis zu 150'000 Franken gekostet haben soll. Dafür nimmt er als einziger aktiver Delegierter der «Gesellschaft zur Förderung des Theaters an der Winkelwiese», welche das Geld der Stadt in Empfang nimmt und verwaltet, eine Kontrollfunktion an «seinem» Theater wahr, die sich im Lauf der Jahre bis zu einem faktischen Veto-Recht ausgewachsen hat. Ein Veto-Recht, das allerdings im Vertrag, den Zweifel mit Theaterleiter Nicolas Ryhiner am 28. Mai 1983 abgeschlossen hat, mit keinem Wort erwähnt ist.

Verbrieft hingegen ist in den Statuten der Förderer-Gesellschaft von 1973 unter Artikel 2, Absatz 2: «Der Verein enthält sich jeder Einflussnahme auf die künstlerischen Belange des Theaters (wie z. B. Spielplangestaltung, Engagements etc.).» Zweifel meint, das heisse lediglich, dass die Verantwortung an ihn delegiert sei, die ganze Gesellschaft, inklusive die Stadt, deren Sitz nach dem Abgang von U. P. Müller seit Juni 1983 vakant ist, stehe «voll hinter dem ‘Altwiibersommer’-Entscheid.» Bezüglich seines ungetrübten Verhältnisses zum Subventionsgeber scheint sich Zweifel aber nun überschätzt zu haben. Jean Pierre Hoby, neuer Stabschef der Präsidialabteilung der Stadt Zürich, will auch den eigenwilligen alten Herrn auf den Nichteinmischungsparagraphen verpflichten. Eine entsprechende Aussprache ist für die nächsten Tage angesagt.

Nachspiel

Eines wäre auch bei einem sich abzeichnenden Handwechsel nicht geklärt: ob ein Stück wie der «Altwiibersommer» von Hansjörg Schneider, welches mit den Mitteln des Volkstheaters ziemlich unverblümt und zynisch Gesellschaftskritik treibt, in einem zürcherisch-städtischen Etablissement prinzipiell und auf die Dauer durchkäme. Träumen wir 1983 wieder von fernen Zeiten, da die Theaterschaffenden ihre Produktionsmittel selber in die Hand nehmen? Oder lassen sich wenigstens Mittel und Wege finden, das bereits geschriebene und weitgehend eingeübte Schneider-Stück doch noch öffentlich zugänglich zu machen? Darum geht es ja schliesslich auch.

[Kommentar]

Nichts mehr zu sagen

Von Hansjörg Schneider

Im Juni dieses Jahres wurde ich gefragt, ob ich für das Theater an der Winkelwiese in Zürich die bekannte Schnulze «Harold und Maude» dramatisieren wolle. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, setzte ich mich mit dem Regisseur Niklaus Ryhiner zusammen. Wir einigten uns darauf, dass die Geschichte von der Gräfin Maude und dem Millionärssohn Harold zu verlogen sei, um auf dem Theater gezeigt werden zu können, dass aber eine Liebesgeschichte zwischen einer alten Frau und einem jungen Mann eine gute Grundstory für ein Theaterstück sein könnte. Wir machten einen Vertrag, in dem stand, dass ich bis Mitte August eine erste Stückfassung abliefern sollte, dass die Premiere Ende Oktober stattfinden würde, und dass ich zur Hälfte vom Theater an der Winkelwiese bezahlt werden würde, zur anderen Hälfte vom Bundesamt für Kulturpflege. Dies natürlich, nachdem dieses Amt unserem Plan zugestimmt hatte.

Ich machte mich an die Arbeit und lieferte Mitte August die erste Fassung ab. Nach guten Diskussionen mit Niklaus Ryhiner schrieb ich anschliessend eine zweite Fassung. Sie war Ende August fertig, und sie gefiel dem Regisseur und mir gut.

Anfang September begannen die Proben. Natürlich war ich dabei. Es gab die üblichen Diskussionen. Es wurde kritisiert, das Stück wurde in Frage gestellt, vieles wurde gestrichen, anderes umgestellt und geändert. Im Ganzen schien sich eine gute Produktion zu entwickeln, es wurde gescheit und konzentriert geprobt, und ich war überzeugt, dass die Aufführung mit dem nötigen Glück gut herauskommen würde.

Selbstverständlich schickte ich das Stück meinem Bühnenverlag nach Frankfurt. Ich erhielt Bericht, dass es ins Frühlingprogramm aufgenommen werde. So schien alles auf bestem Wege zu sein.

Nach zehn Tagen Probenarbeit sagte mir der Regisseur Ryhiner, der Wurm sei in der Produktion. Der Herr Zweifel nämlich, der Präsident und Mäzen des Trägervereins der Winkelwiese sei, habe ein Vetorecht bei der Spielplangestaltung. Und diesem Herrn gefalle mein Stück nicht. Am 16. September um 13 Uhr finde deshalb eine Lesung des Stückes statt, bei der Herr Zweifel anwesend sein würde.

Die Lesung fand statt. Auf der Tribüne sassen Herr Zweifel nebst drei Damen und einem Herrn. Die Stimmung war so frostig, dass den Schauspielerinnen und Schauspielern die Wörter in der Kehle zu gefrieren drohten.

Anschliessend fand die Bewertung statt. Herr Mäzen Zweifel verwies auf seine Arbeit als Architekt, auf die Entwicklung einer Bauidee und über die verschiedenen Stufen bis hin zum fertigen Bau. Da werde diskutiert und geändert. Konzeptionen würden verworfen und neue entworfen, es sei ein langer Weg, bis der Bau endlich stehe. Dann kam er auf seinen Theaterinstinkt zu sprechen. Dieser sage ihm, dass mein Stück unfertig und schlecht sei, und deshalb könne er eine Aufführung nicht verantworten. Auf die Frage, was denn schlecht sei, meinte er, der Schluss sei nichtssagend, und vor allem seien diejenigen Szenen, die lustig sein sollten, überhaupt nicht lustig, sondern nur blöd. So sei zum Beispiel der Oberst, den ich mit einigen authentischen Sprüchen des Korpskommandanten Roger Mabillard geschmückt und so karikiert hatte, hoffnungslos verzeichnet. Er kenne einige Obristen (Herr Zweifel ist Oberstleutnant), und so dumm sei keiner, und in jedem stecke noch eine Portion Liebenswürdigkeit. Sein Instinkt sage ihm weiter, dass auch der Nationalrat, den ich auftreten lasse und der die satirische Umkehrung der freisinnigen Wahlsprüche von Fortschritt und Entwicklung ermöglicht, kein wirklicher Mensch sei, sondern die allerletzte Knattercharge. Zudem hätte ich meinen Auftrag nicht erfüllt. Anstatt nämlich die liebenswürdige Romanze von Maude und Harold zu adaptieren, hätte ich eine blöde Aktualisierung geliefert, die allerdings mit der Wirklichkeit nichts zu tun habe. (Im Vertrag steht, dass ich «ein Theaterstück nach Motiven des Romans Harold und Maude» schreiben werde).

Es war ein tristes Streitgespräch. Die versteinerten Mienen der Vorlesungs-Jury liess die Temperatur im Raum unter Null sinken, und die Schauspielerinnen und Schauspieler sanken in die Eiszeit zurück.

Wir verzogen uns in den Kaffeeraum, tranken Appenzeller Alpenbitter und warteten auf das Urteil. Nach wenigen Minuten schon erschien in der Tür des Mäzens leidende Miene. Er könne diese Produktion wirklich nicht verantworten, gestand er uns, denn er müsse geradestehen für sein Theater. Ich sagte ihm, dass er also Schauspieler engagiere, um ihnen das Theaterspielen verbieten zu können. Er schüttelte noch trauriger den Kopf und meinte, die Verträge würden finanziell erfüllt. Im übrigen gäbe es nichts mehr zu sagen.

Hansjörg Schneiders Stück «Altweibersommer» wurde im Jahr darauf, 1984, mit Stephanie Glaser als Darstellerin der Margot in der Mansarde des Stadttheaters Bern uraufgeführt. Am 13. Februar 1986 hatte es in der Inszenierung von Peter Arens Premiere im Keller des Zürcher Schauspielhauses; in der weiblichen Hauptrolle hier: Margrit Ensinger. – Die bisher letzte Aufführung realisierte 2014 das Theater «Sinnflut» in Rohrschach.

Ich danke Lotta Suter (Mail vom 6.4.2015) und Hansjörg Schneider (mündlich, 8.4.2015) für die Erlaubnis, den WoZ-Berichterstattung an dieser Stelle integral zweitveröffentlichen zu dürfen.

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