Wem gehört die Sprache?

Das müssten sich ja nicht nur Lyriker/innen fragen: Wem gehört eigentlich die Sprache? Ist es wie mit der Luft? Sie gehört allen, aber den Giftgehalt bestimmen die arbeitsplatzsichernden Giftmischer: Die Sprache gehört allen, aber das sie bedeutet, bestimmen… ja, wer eigentlich? Und bei einem Gedicht, in der abgehobenen Sphäre des Dichtens und Webens? Hebt dort die Sprache auch ab, oder nur der/die Schreibende? Gehört dort die verwendete Sprache niemandem mehr oder gar dem/der Benützer/in? Kann Sprache plötzlich wertfrei, rein werden? Wird auf dem sauberen Papier der hohen Gesinnung wieder sagbar, was einem von den Plakatwänden, schwallweise aus unberufenen Mündern oder durch den Fleischwolf der Medien gepresst anfällt und zusammenstaucht, grölend, verlogen, sabbernd vor Betrug?

 Freiheit*)

*) Das ist ein Gedicht.

Sprache als «objektives Material»: «Die konkrete Dichtung ist ihr Material. Ihr Inhalt ist restlos Form, ihre Form ist restlos Inhalt», schrieb Claus Bremer 1958.[1] Seine konkrete Poesie war damals unter anderem vom Komponisten John Cage inspiriert, der an einem der Darmstädter-Kurse gefragt habe: «Sind Töne Töne oder sind Töne Webern?» Was die Wiener Schule, zu der man Anton Webern zählt, nach dem 1. Weltkrieg eingeleitet hatte, war ja die Demokratisierung der akustischen Phänomene: Ton ist Ton und also gleich wahrscheinlich. Dies auf die Sprache übertragen – Wort sei Wort – setzt voraus, dass den Begriffen jede wertende Gewichtung (die sie ja aus der herrschenden Sprachrealität, nicht aus den Intentionen ihrer Anwendung beziehen) genommen wird, dass die Begriffe de-konnotiert, abgekoppelt werden von ihrer verqueren, schillernden Mehrdeutigkeit, dass sie eindeutig «klassisch» werden: Sprache im Ghetto der selbstgewählten Freiheit: Freiheit der Belanglosigkeit. Von dieser Sprache ausgeschlossen sind alle wertenden Formulierungen, die eindeutigen Abgrenzungen, die parteilichen Perspektiven. Bremer spricht heute von der «fremdgewordenen Glätte konkreter Poesie». Um sie und sich «glaubwürdig, beziehungsweise haftbar zu machen», will er sie nun «mit meinem Privatleben verbinden». Mit einem Schlagwort bezeichnet er sein Programm: «Neue Sensibilität».

Wenn Sprache also nicht «abgekoppelt» werden kann, wenn man mit der Sprache nicht so umgehen kann, als ob sie einem gehören würde, dann fragt sich: Woran kann man Sprache «festmachen»? Zum bürgerlichen Klischee des abgehobenen Schreibens gehört, dass die Sprache ausschliesslich an der eigenen tragischen Grösse festgemacht werde: Das ist der Grund, weshalb sich in den meisten Gedichten Tragik untrennbar mit Banalität mischt.

Wer die Sprache an sich selber festmacht, als schreibender Hofnarr ohne Hof, der kann sich um Parteien, Grenzen und Fronten foutieren, der steht immer abseits und, wenn er nicht klagen mag, mokiert er sich über Gott und die Welt: «Ihr dort oben, ihr dort unten» (Werner Bucher[2]), sitzt sinnend am Wein («Oh, diese Purzelbäume, dieses Geflatter im Licht –») und haut in die Pfanne, wie’s kommt und gut tönt: «…ich erwarte, dass / alle Politiker sterben, bevor / sie geboren sind».  

Sprache an sich selber festmachen: «ich verweigere / regel wie / gegenregel / anarchisch» (Ingeborg Kaiser[3]). Die Hoffnung hier: «im raum der / phantasie / erlischt jede / sprache der / macht.» Aber das Büchlein in meiner Hand ist nicht der Raum der Phantasie, sondern ein Produkt des orte-Verlags, und die Formulierung kippt ins Paradoxe: Im Raum des vermarkteten Ichs erlischt jede Macht der Sprache. Kaisers Position verliert im wahrsten Sinn des Wortes Sprache: «ich bin / durchs feuer    mutter   mein haar / hat die farbe von asche / wenige worte bleiben / gehärtet / nicht mehr verformbar». Und auch diese Behauptung scheint nicht haltbar, denn schon «übe ich das / schweigen als / signal». Schweigen als einzige moralisch haltbare Position des/der Schreibenden, hölderlin- und walser-verweisend, würde voraussetzen, dass Sprache noch eine moralische Instanz wäre. Aber so ist Sprache nicht mehr zu verteidigen. Die Begriffe sind nicht mehr «keusch», in jedem denkbaren Wort steckt schon Euphemismus, Wahnwitz und Paradox, jede denkbare Formulierung ist moralisch bereits missbraucht: Ein Gespräch über Bäume ist ein Verbrechen, weil er das Schweigen über so viele Untaten einschliesst. Zweifellose Moral mit ungebrochener Sprache zu transportieren: Das ist heute das Geschäft der Ignoranten und Machtpolitiker.

Radikaler, kühner, sind jene, die, an diesem Punkt angekommen, die Moral ihrer Sprache retten, indem sie sie neu erfinden. Sie wählen den schwierigsten Weg, weil sie die Allgemeinverständlichkeit ihrer Wörter aufgeben, zugunsten einer Sprache, die noch «stimmt». Auf diesem Weg – die eigene Welt neu zu chiffrieren – hat sich Mariella Mehr[4] gemacht: «schatten wachsen / in meinen blauraum / angst / durch den silbergarten / schleicht ein gefrässiges / tier / ich liege / mit hängenden flügeln / zwischen eisblumen». Ich kann dir das nicht erklären, was beim Lesen in mir passiert: Ich verstehe kein Wort, aber genauso, wie sie das sagt, ist es doch, oder?

Oder dann die unmoralische, die «gefallene» Sprache zum Material der eigenen Lyrik machen. In der «brokdorfer kantate» verwendet Peter-Paul Zahl[5] unter anderem einen vertraulichen Polizeibericht: «im gesamten / befriedungsgebiet / ist ständig / intensive aufklärung / zu betreiben* / sie sprechen / die sprache / des krieges». Nachdem Niklaus Meinberg[6] den Ex-Bundesrat Hürlimann samt dessen Frau Marie-Theres geborene Duft in Dantes Hölle geschickt hat, beschliesst er sein Gedicht: «So wie er [Hürlimann, fl.] Danten liebt, so liebt er mich / ich tu genau, was dieser tat / und mach die Höllenflamm parat / für meine Feinde ewiglich». Um den Preis der «gefallenen», parteilichen Sprache wird plötzlich wieder alles möglich: Persiflage und Endreim, Zitat und Kommentar.

Mit Adorno, der unter dem Eindruck der Hiroshima-Bombe gesamt hat, nun sei es nicht mehr möglich, Gedichte zu schreiben[7], bin ich dann einverstanden, wenn damit gesagt ist, dass die bürgerliche Kunstsprache mit dem moralischen Anspruch, dass im «Schönen» das «Gute» zu stecken habe, als Material zur Lyrikproduktion endgültig unbrauchbar geworden sei. Möglich und nötig hingegen ist Lyrik, die im Bewusstsein redet, dass die Sprache, die sie spricht, will sie verstanden werden, nicht ihr gehört. Wer gegen die herrschende Macht anschreibt, muss dazu die Sprache der Macht verwenden, weil es keine andere gibt, die verstanden wird. Die Sprache der Macht gegen diese selber umzukehren, das ergibt im besten Fall jene «Gegensprache», von der Max Frisch letzthin in einem Interview (KONKRET 4/1983) gesprochen hat. Ebenfalls dort hat er gesagt: «Jede Literatur, die diesen Namen verdient, konfrontiert oder unterwühlt die Herrschaftssprache.»

[1] Claus Bremer: Farbe bekennen. Mein Weg durch die konkrete Poesie. Essay, Zürich (orte-Verlag) 1983.

[2] Werner Bucher: Das bessere Ende. Gedichte, Zürich (eco-Verlag) 1982.

[3] Ingeborg Kaiser: manchmal fahren züge. Gedichte, Zürich (orte-Verlag) 1983.

[4] Mariella Mehr: inndiesem traum schlendert ein roter findling. Gedichte, Bern (zytglogge-Verlag) 1983.

[5] Peter-Paul Zahl: Konterbande. Gedichte, Frankfurt am Main (Zweitausendeins) 1982. – Der * nach «betreiben» verweist auf eine Fussnote: «Quelle: ‘Vertraulicher Polizeibericht über die Aktion in Brokdorf’ – Schleswig-holsteinische Landeszeitung, Rendsburg 1976.»

[6] Niklaus Meienberg: Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge. Poesie 1966-1981, Zürich (Limmat Verlag) 1981.

[7] [Die Paraphrasierung von Adornos Arguments ist sehr ungenau: Er hat im Aufsatz «Kulturkritik und Gesellschaft» 1949 den Satz geprägt: «Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch», fl. 7.2.2015].

Später habe ich für das «Konvolut» (1989) einen zweiten Text unter dem Titel «wem gehört die sprache?» geschrieben, in dem ich auf den vorliegenden Bezug nehme.

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